Hier beginnt: Die Gesellschaft
Besondere Orte:
Es gibt Orte verdichteter Erfahrung, Orte wo Menschen einander in einem Anflug existentieller Nacktheit begegnen und der Alltag durchlässig wird für die besondere innere Schönheit mancher Menschen, die im zermürbenden Alltag einer Gesellschaft, wo alles auf Konkurrenz gebürstet ist und jedes Leben in der Tretmühle des Schneller, Höher, Weiter eingespannt ist, dem reizüberfluteten Auge des Betrachters entgehen mögen. Manche dieser Orte wurden geschaffen, um genau das zu bewirken, dass sich Menschen dort begegnen, einander sehen und spiegeln können, um ihre inneren Sinne zu schärfen und ihr Selbstbild zu korrigieren. Die beiden psychosomatischen Kliniken, die ich jeweils für einige Monate bewohnen durfte, waren solche Orte.
Andere solche Orte entstehen aus besonderen Umständen. Als im Ahrtal die Menschen von der Flut überrollt wurden, fanden sich viele Leute aus der ganzen Republik ein, um zu helfen, und auch manche Betroffenen wuchsen in ungewöhnlicher Weise zusammen. Aus Butscha und anderen Orten, wo Menschen in einer gefährlichen Situation zusammen rücken und zusammen halten mussten, gibt es ähnliche Berichte. Soldaten erzählen von der existentiellen Verbindung zu ihren Kameraden, die sie nur ungern allein lassen und manche finden sich anschließend im schalen bürgerlichen Leben nicht mehr zurecht.
Mir ist diese existentielle Verbundenheit in gut geführten Bibel- und Gebetskreisen, Ordensgemeinschaften und den beiden psychosomatischen Kliniken begegnet. Es gibt also neben existentiellen Notlagen auch Lebens- und Gemeinschaftsformen, die verdichtete Erfahrungs-Räume schaffen, wo Menschen einander näher kommen und einander wahrnehmen lernen, statt aneinander vorbei zu leben, selbst wenn wir einander täglich begegnen und miteinander sprechen.
Sollten wir uns also alle in Ordensleute, frühchristliche oder kommunistische Gemeinschaften verwandeln? Ich schätze, so einfach sind die Dinge nicht.
Totale Institutionen:
Der Soziologe Erwing Goffmann spricht in seinem Buch 'Asyle' von Psychiatrie, Militär und Ordensgemeinschaften als 'totalen Institutionen', die das Leben ihrer Insassen total bestimmen, ihnen Selbstbestimmung und Verantwortung in einem Maße abnehmen, dass sie später nicht mehr ohne weiteres selbstständig leben können, sie verkindlichen und in einem Zustand totaler Abhängigkeit festhalten. Und der Psychologe Viktor Frankl, selbst Konzentrationslager-Überlebender, beschreibt anschaulich die erschreckenden Vorgänge, die die Gefangenen auf ihrem Weg ins Lager überwältigt und in einen Zustand kindlicher Hilflosigkeit zurück geworfen haben.
Auch der real existierende Sozialismus brachte teilweise derartige Tendenzen mit sich.
Ich erinnere mich noch an mein Erstaunen über die DDR - Gruppen, die mir in meiner Studienzeit begegnet sind. Die Leute waren mir sympathisch. Ihr Sozialverhalten schien nahbarer zu sein und weniger kompliziert. Das galt in einem Fall sogar für die begleitenden Partei-Funktionäre.
Es war, so weit ich mich erinnere, meine letzte Gruppe. Ein Funktionär hielt mir im Bus noch einen Vortrag darüber, wie sehr das eigene System unserem überlegen sei. Doch leider entwickelte sich unsere Reise zu einer 'Reise nach Jerusalem'. Unterwegs verschwanden fast jeden Tag 1 bis 2 Reise-Teilnehmer. Die Menschen standen in Trauben vor Marktständen oder Supermarkt-Regalen, wo massenhaft Südfrüchte aufgestapelt waren. Sie erzählten mir kichernd von ihrem ersten Besuch in einem Porno-Shop. Sie fanden das Angebot dort eher lustig und befremdlich.
Ich studierte damals erstaunt, wie sehr sich die Kulturen und die mentale Konfiguration der Bewohner in zwei benachbarten Ländern unterscheiden können, die die gleiche Sprache nutzen und große Teile ihrer Vergangenheit gemeinsam haben.
Freundschaft:
Damals habe ich mich mit einer Frau aus einer der Gruppen angefreundet. Eigentlich im Laufe der Zeit mit mehreren. Aber dieser Kontakt hielt am längsten und führte am weitesten. Sie lud mich ein und ich besuchte sie zwei Mal, bevor sich der Staat, in dem sie aufgewachsen war, plötzlich auflöste. Sie besuchte mich dann, als wir uns plötzlich im gleichen Land wieder fanden, und wir verbrachten dann noch einmal eine kurze Zeit gemeinsam in London, bevor ich mich in das Abenteuer überschwänglichen Glaubens stürzte und sie mit fliegenden Fahnen in Richtung Turbo-Kapitalismus abbog. Sie nannte mich 'Mutter Theresa' und ich dachte bei ihr im Stillen zuweilen an eine 'Heuschrecke'. Der Kontakt ist dann irgendwie eingeschlafen. Dennoch bevölkert sie weiterhin meine geheimen Innenräume und ich frage mich manchmal, was sie wohl macht und wie es ihr geht.
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Die Fülle des Lebens
No FicciónEigentlich wollte ich nur eine Mail schreiben. Doch die wurde zu lang und niemals abgeschickt. Ich wollte einem Bekannten, mit dem ich vor Monaten über Nachhaltigkeit und Entfremdung gesprochen hatte, berichten, welcher stetige Strom an Gedanken aus...