Täter und Opfer:
Der Historiker Yuval Noah Harari machte in seinem Interview darauf aufmerksam, dass ein Individuum oder eine Gruppe gleichzeitig Täter und Opfer sein könne, was aber die Betroffenen normalerweise nicht sehen können und nicht wahrhaben wollen. Das kann ich aus meinen Gesprächen und Beobachtungen nur bestätigen, und zwar unabhängig von diesem Konflikt. Doch speziell im Israel-Palästina-Konflikt haben mir die meisten, die sich mir gegenüber geäußert haben, in der Grundstruktur dieselbe Geschichte erzählt: Wir sind die Opfer. Die anderen sind die Täter. Und wenn wir Gewalt anwenden, dann nur, weil wir uns wehren müssen.
Wahrscheinlich bin ich in jener Zeit keinem Vertreter der Hamas und niemandem aus der national-religiösen Siedler-Bewegung begegnet. Die hätten mir, wenn sie ehrlich gewesen wären, auch damals schon was anderes erzählt. Und das sind die Akteure, die sich gegenwärtig in Form der Autonomie-Behörde von Gaza und der israelischen Regierung gegenüber stehen.
Konsens-Fähigkeit:
Damals, als ich versuchte, diesen Konflikt zu verstehen, gab es unter meinen Gesprächspartnern wohl einen unausgesprochenen Konsens, dass auf palästinensischer Seite die Existenz des Staates Israel nicht in Frage gestellt wurde und auf israelischer Seite niemand öffentlich und offensichtlich darauf aus war, die Rechte der Palästinenser zu streichen.
Dieser Konsens, der in einer zivilisierten Debatte vor 20 Jahren noch einigermaßen selbstverständlich war, ist durch die gegenwärtigen Haupt-Akteure weitgehend aufgekündigt. Die Hamas hat die Vernichtung Israels zu ihrer Geschäftsgrundlage gemacht und die radikale Siedler-Bewegung würde die Palästinenser lieber heute als morgen aus allen potentiellen Siedlungsgebieten vertreiben, wie es in Ost-Jerusalem und Teilen des Westjordanlandes schon jetzt geschieht.
Das heißt, damals wurde die Bühne - zumindest offiziell - noch von Akteuren beherrscht, die sich einem gemeinsamen zivilisatorischen Grundkonsens verpflichtet sahen. Heute ist das nicht mehr der Fall.
Damals gab es auf beiden Seiten noch so etwas wie eine konsensfähige Regierung und Demokratie. Heute hat in Palästina seit Ewigkeiten keine Wahl mehr stattgefunden. In Tel Aviv beschäftigt sich die Regierung damit, die Unabhängigkeit der Justiz auszuhebeln und radikale, gewaltbereite Siedler im Westjordanland zu stärken, statt friedliche Staatsbürger im international anerkannten Süden des eigenen Landes wirksam zu schützen. Ein israelischer Kommentator sagte dazu in einem Interview sinngemäß: 'Die Regierung setzt die falschen Prioritäten.'
Hamas:
Mit ihrem verstörend brutalen Überfall auf wehrlose Zivilisten hat Hamas nicht nur das Völkerrecht, sondern auch das zivilisatorische Menschheits-Projekt aufgekündigt, das in Vereinten Nationen, Menschenrechten, Völkerrecht und Nachhaltigkeits-Zielen seinen Höhepunkt hat.
Und die israelische Regierung? Sie gibt sich überwiegend Mühe, zumindest den Anschein zu erwecken, dass sie sich an allgemeine Regeln hält. Doch ist das, was sie inzwischen nicht nur plant, sondern auch tut, in den Konsequenzen noch aberwitziger als das, was Hamas in offener Verachtung aller zivilisatorischen Grenzen bereits getan hat.
Land:
Nach seiner persönlichen Situation befragt, erzählte Yval Noah Harari von Verwandten, die in einem Kibbutz nahe Gaza wohnen und den Überfall auf ihre Gemeinschaft in einem Versteck mit knapper Not überlebt haben, während quasi vor ihrer Tür andere Mitglieder der Gemeinschaft abgeschlachtet wurden. Er beschrieb, wie sehr sich diese Menschen für ein friedliches Miteinander eingesetzt haben und dass der Anschlag wenige Tage vor ihrem alljährlichen kleinen Fest am Grenzzaun stattfand, mit dem sie normalerweise darauf aufmerksam machten, dass jenseits des Zaunes jemand an die Menschen in Gaza denkt.
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Die Fülle des Lebens
Non-FictionEigentlich wollte ich nur eine Mail schreiben. Doch die wurde zu lang und niemals abgeschickt. Ich wollte einem Bekannten, mit dem ich vor Monaten über Nachhaltigkeit und Entfremdung gesprochen hatte, berichten, welcher stetige Strom an Gedanken aus...