Tom blieb vor den stummen Telefonen sitzen und las in dem Libyen-Buch, das er sich von dem General geliehen hatte, während sich Nikos am Schreibtisch an seine Hausaufgabe für ein Seminar über den Zweiten Weltkrieg begab. Er hatte als Referatthema den Krieg in Nordafrika gewählt, und er fragte sich, ob er später mit dem General darüber sprechen sollte. Immerhin war der dabei gewesen.
Als Franz die Pizzen brachte, versammelten sie sich in Klaus' Büro und aßen zusammen.
„Fragen Sie mich alles, was Sie wissen wollen," lud der General Nikos ein, nachdem er ganz vorsichtig vorgefühlt hatte, ob der General ihm Informationen aus erster Hand geben könnte. „Ich war selbst nur ein halbes Jahr dabei, aber ich habe alles zu dem Thema gelesen."
„Wir haben die Soldatenfriedhöfe in El-Alamein gesehen," sagte Tom, „den britischen, den italienischen und den deutschen. Was für eine Verschwendung, ich meine nicht die Friedhöfe, aber die tausenden von jungen Männern, die in den Schlachten um ein totes Stück Sand gestorben sind."
„Haben Sie das deutsche Ehrenmal besucht?" fragte der MAD-Chef.
„Ja," antwortete Tom und vermied jede weitere Äußerung. Sein Abscheu könnte bei jemandem, dessen Kameraden dort bestattet waren, falsch ankommen, dachte er. Die nächste Frage des Generals überraschte ihn daher:
„Und Sie haben es wahrscheinlich, sagen wir, unangemessen gefunden?"
„Ja, unangemessen, so würde ich es nennen," antwortete Tom vorsichtig.
„Ich auch," sagte der General. „Ich lese immer die Zeitschrift der Kriegsgräberfürsorge. Das in Tobruk ist genauso klotzig, aber die Inschrift ist sehr nachdenklich formuliert."
„Wir haben auf Kreta ein ganz furchtbares Exemplar herumstehen," fügte Nikos hinzu. „den Text finde ich, Entschuldigung, zum Kotzen."
„Ich kenne es, und es geht mir nicht anders," sagte der General. Er bemerkte ihre Verwunderung und fügte eine Erklärung an. „Ich war nach Kriegsende ein Jahr in den USA, das hat mir die Augen geöffnet. Man war ja blind, nach der Hitlerjugend, und in der Wehrmacht sowieso. Da ging's 1941, als ich nach Afrika kam, nur noch ums Überleben. Der Feind war der Feind, seine MGs haben genauso getötet wie unsere. Da hat man nicht über Politik nachgedacht."
„Manche schon," meinte Martin.
„Ja, mutige Leute," stimmte ihm der MAD-Chef zu. „Ich nicht. Ich war nicht mutig."
„Tut Ihnen das leid?" fragte Martin nach.
„Würde das etwas ändern? Es geht nicht darum, ob mir etwas leid tut. Es geht darum, dass wir daraus die Lehren ziehen. Ich weiß nur eins. Sowas darf nie wieder passieren, und genau das ist der Auftrag der Bundeswehr – zu verhindern, dass Deutschland in einen krieg verwickelt wird, durch einen Angriff von außen, und erst recht nicht, indem Deutschland einen Krieg beginnt. Deswegen haben wir das Prinzip der Inneren Führung entwickelt, das besagt, dass jeder Soldat selbst entscheiden muss, ob ein Befehl rechtmäßig ist, und wenn er das nicht ist, muss der Soldat den Gehorsam verweigern. Sobald ein Soldat der Bundeswehr den Befehl zu einem Angriffskrieg erhält, muss er „nein" sagen. Der Bundeskanzler sieht das auch so, wie die meisten, die den Krieg erlebt haben, und das gilt auch für die meisten Generäle."
„Eine starke Armee, um einen Krieg zu vermeiden? Ein Oxymoron, wenn Sie mich fragen," meinte Martin.
„Im Großen und Ganzen funktioniert's," verteidigte der General die Strategie der Abschreckung, das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens.
„Im Großen und Ganzen, ja," gab ihm Martin recht, allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung. „Die Dummen sind so Leute wie die Vietnamesen, wo die Amerikaner und Russen sich im Kleinen austoben."
DU LIEST GERADE
Die richtigen Leute Band 8: 6.000 Jungs wie Ihr
Historical FictionIn „6.000 Jungs wie Ihr", dem 8. Band meiner Reihe „Die richtigen Leute", geht es um die Vorbereitung und Durchführung einer vorgetäuschten Flugzeugentführung, die dazu dient, die überlebenden palästinensischen Attentäter des Anschlags auf die Olymp...