Kapitel 21

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- Emma -

Samstag. Mein freier Tag. Für heute hatte ich mich mit meinem Onkel Frank verabredet. Bevor ich jedoch zu ihnen fahren würde, würde ich meinen Großeltern auf dem Friedhof einen kleinen Besuch abstatten. Ich war bereits früh aufgestanden, hatte geduscht und mir die passende Kleidung für den Besuch raus gelegt. Ich hatte gehofft, meinen Kaffee allein einnehmen zu können, doch Gemma war bereits auf den Beinen. Ich traf sie in der Küche an, während sie bereits über ihrem Laptop hing und ihre Tasse an den Lippen hatte. Schweigend schaute sie über den Monitor und lächelte mich an, als sie mich erblickte. Ich nickte ihr zu. Es war zu früh, um miteinander zu sprechen. Sie wusste, dass ich auf den Friedhof wollte und im Anschluss zu Frank und Debbie. Sie musste nicht fragen, warum ich um diese Uhrzeit, an meinem freien Tag, auf den Beinen war. Ich würde bei Frank und Debbie frühstücken. Stumm schenkte ich mir die braune Flüssigkeit in die Tasse ein, leerte etwas Milch hinzu und ließ das belebende Getränk durch meinen Körper laufen. Der Kaffee belebte meinen Geist. Ich war bereit für den Tag. Als ich zu Gemma schaute, um mich von ihr zu verabschieden, war sie auf ihr Handy fixiert und tippte energisch etwas ein. Zum Abschied hob sie ihre Hand.



Auf dem Friedhof angekommen, musste ich mich zuerst orientieren. Frank hatte mir per Mail eine Karte zukommen lassen, wo sich das Grab meiner Großeltern befand. Es dauerte nicht lange, bis ich es gefunden hatte. Groß war der Friedhof nicht. Ich hätte es wahrscheinlich auch ohne seine Karte geschafft. Nun stand ich vor ihm und schaute auf ein großes Familiengrab hinab. Auf dem Stein standen zwei Namen. Molly Bright geb. Forbes und Wilfred Bright. Das Grab war schlicht gehalten. Ein Grabstein mit den Namen, Geburts- und Sterbedaten meiner Großeltern. Auf dem Grab befanden sich, außer einem Gesteck, welches passend zur aktuellen Jahreszeit war, nur ein kleines Licht und Kieselsteine in schwarz und weiß zu einem Muster gelegt. Es war eine Schande, dass ich das erste Mal seit der Beerdigung meiner Großmutter hier war. Sechs Jahre war es her, dass ich vor ihnen stand, auf ihre letzte Ruhestätte schaute und mit ihnen in ihrer Heimat sprach. Es tat weh, ihre Ruhestätte zu sehen. Es erinnerte mich an den Tag, an dem wir meine Großmutter beerdigt hatten und ich mir schwor, regelmäßig nach ihnen zu sehen, meine Familie zu besuchen und Kontakt mit ihnen zu halten. Die Besuche hatte ich nicht eingehalten. Ich hatte es nicht geschafft, meinen Hintern hier her zu schwingen, um mit ihnen hier zu reden, ihnen von meinem Leben zu erzählen, was ich alles geschafft hatte und was ich vorhatte. Stattdessen hatte ich mich von Deutschland aus mit ihnen unterhalten, auch wenn ich wusste, dass es sich falsch anfühlte und nicht das gleiche war, wie hier zu sein.

Ich legte den mitgebrachten Blumenstrauß auf ihrem Grab ab und blieb auf dem Boden davor knien.

„Hey Grandma. Hey Grandpa", begann ich leise und bedacht zu erzählen. „Es ist eine lange Zeit vergangen, als ich das letzte Mal hier war. Aber stellt euch vor, endlich habe ich es geschafft, in eure Heimat zu reisen und euch zu besuchen. Ich weiß, es ist bereits viel Zeit vergangen, seitdem ich hier war, aber ich war zu feige hier her zu kommen und euch zu besuchen."

Der Wind wehte um meine Nase, als ich mit ihnen sprach. Ich wusste nicht, ob sie mich hörten, aber es tat gut, mit ihnen zu reden.

„Ich bin mir sicher, ihr wisst bereits, warum ich hier bin, aber ich möchte es nochmals selbst mitteilen. Ich habe mich dazu entschlossen ein Auslandsjahr in eurer Heimat zu machen. Ich bin in einer sehr netten Gastfamilie, die mich wirklich freundlich aufgenommen haben und ich fühle mich bei ihnen wie zu Hause. Es fehlt mir hier an nichts, außer, dass ihr nicht mehr hier seid und ich euch nicht besuchen kann, um mit euch von Auge zu Auge zu sprechen. Es ist sechs Jahre her, seitdem ich das letzte Mal hier war, um dich Granny zu Grabe zu tragen und acht, als wir dich Grandpa zu deinem ewigen Ruheplatz brachten."

Sie antworteten nicht, aber es tat gut, zu sprechen.

„Dads Herz ist gebrochen, als ihr für immer von uns gegangen seid. Er hat sich geschworen, nie wieder nach Kanada zurückzukehren, außer es würde Frank nicht gut gehen. Ansonsten würde er nie wieder in seine Heimat kommen... Wisst ihr, ich werde später zu Onkel Frank und Tante Debbie fahren. Auch sie habe ich seit deinem Tod, Granny, nicht mehr persönlich gesehen. Wir halten zwar noch Kontakt, aber nur per Nachrichten, Mails und Skype. Also so wie wir früher auch, wenn wir uns sehen wollten, aber es noch keine Zeit war, hier her zu reisen. Es hat sich also nichts geändert. Ich habe ein bisschen Bammel davor. Es ist viel Zeit vergangen und ich weiß nicht, wie sie sich entwickelt haben. Sind sie noch immer die gleichen Personen, wie ich sie in Erinnerung habe? Haben sie sich geändert? Sie sind älter geworden, so wie ich auch. Ich freue mich und habe Angst. Ich hoffe, ihr steht später hinter mir und gebt mir den benötigten Schubs, den ich brauche, um bei ihnen zu klingeln..."

Ich redete und redete und redete. Ich erzählte viel von meinem Studium, was bisher geschehen war, warum ich mich ausgerechnet für Kanada für mein Auslandsjahr entschieden hatte und viele andere Dinge. In der Zwischenzeit liefen einige Menschen an mir vorbei, besuchten die Gräber ihrer Angehörigen, schauten mich an oder ignorierten mich. Mir war egal, was sie von mir dachten. Ich war hier, um mit meinen Großeltern zu reden und keiner konnte mich davon abbringen. Nicht einmal der junge Mann, den ich plötzlich aus dem Augenwinkel sah. Er stand etwas entfernt an einem Baum und schaute zu mir herüber.

„Granny, Grandpa. Ich werde euch jetzt verlassen und werde zu Frank und Debbie fahren. Ich verspreche euch, dass ich euch noch häufiger besuchen werde, solange ich hier bin. Ich habe euch lieb."

Ich hatte lange gesessen, weswegen meine Beine eingeschlafen waren. Es dauerte eine Zeit, bis ich auf meinen Beinen stand.

„Was willst du hier, Harry?", fragte ich den Mann, nachdem ich aufgestanden war und mich umgedreht hatte. „Und woher weißt du, dass ich hier bin?"

„Gemma! Sie hat mir gesagt, dass du heute hierherfährst", antwortete er mir. Hatte sie ihm heute Morgen eine Nachricht geschrieben? „Erinnerst du dich? Ich hatte dir versprochen, mit dir zum Grab deiner Großeltern zu fahren. Ich wollte für dich da sein und eine Stütze sein, falls etwas sein sollte. Und da das hier kein allzu großer Friedhof ist, war es nicht schwer, dich zu finden."

Ich lief zu ihm hinüber und blieb vor ihm stehen. Ich mit meinen knapp eins sechzig baute mich vor einem über eins achtzig großen Mann auf. Das war albern.

„Mir geht es gut, Harry. Ich brauche keine Stütze."

„Das habe ich gesehen, aber dennoch habe ich es dir versprochen. Und ganz egal, was passiert ist, ich halte mein Versprechen."

„Genauso wie du es gehalten hast, zu deiner Verlobten zu gehen? Kaum haben wir uns im Kino gesehen, hast du mich erneut geküsst. Das war nicht der Sinn der Sache, als ich dich darum bat, zurück zu Trish zu gehen."

„Ich bin zu Trish, wie ich es dir versprochen habe. Doch wie ich es bereits erwähnt hatte, wenn wir uns über den Weg laufen, spüre ich eine Anziehung, die ich nicht erklären kann. Und bitte sag mir nicht, dass du es nicht ebenfalls fühlst. Da ist eine Spannung zwischen uns." Er wartete darauf, dass ich etwas auf seine Aussage kommentierte, doch ich tat ihm diesen Gefallen nicht, da ich mich sonst um Kopf und Kragen redete. Also sprach er weiter. „Ich habe dir aber auch versprochen, dass wir wieder normal miteinander umgehen werden, so als wäre nie etwas geschehen. Ich hatte dir zugesagt, dich zum Grab deiner Großeltern zu begleiten. Hier bin ich. Und auch, wenn du mich nicht sehen willst, wird es so ausgehen, dass wir uns häufiger über den Weg laufen, solange wir uns beide in diesem Land befinden. Es ist unausweichlich. Immerhin arbeitest du bei meiner Schwester."

Ich wollte diese Unterhaltung nicht weiter auf einem Friedhof führen, weswegen ich an ihm vorbeilief und in Richtung Ausgang ging. Zweifelsohne folgte Harry mir. Er ging einen Schritt hinter mir, schwieg jedoch. Es war an mir, zu reden, aber ich wollte von ihm fliehen, bevor ich etwas Dummes tat, was ich bereuen würde.

Am Auto angekommen, blieb ich abrupt stehen. Mein eigentlicher Gedankengang war, dass ich mich in es setzte, ohne ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln, und direkt zu meinem Onkel fahren würde. Obwohl ich es gerne umsetzten wollte, hielt ich es für falsch. Harry war hierhergekommen, obwohl er es nicht gemusst hätte. Er hatte wahrscheinlich von Gemma erfahren, dass ich meine Großeltern besuchte, hatte sein Versprechen eingehalten und war mir eine Stütze gewesen, selbst wenn ich seine Anwesenheit erst relativ spät gemerkt hatte. Doch warum hatte Gemma ihrem Bruder geschrieben, dass ich zum Friedhof fuhr? Woher wusste sie, dass er mir zugesagt hatte, mich zu begleiten? Hatte er es ihr gesagt?

„Danke dir, Harry!"

Mit dem Schlüssel in der Hand, mit dem ich eigentlich das Auto aufschließen wollte, drehte ich mich auf der Stelle um. Ich sah in Harrys Augen. Er stand nah bei mir, dennoch noch weit genug entfernt, dass ich ihm nicht um den Hals fallen konnte.

„Gern geschehen. Versprochen ist versprochen. Du brauchtest Halt, ich gab ihn dir, wenn auch anders, als damals gedacht."

Still The OneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt