Kapitel 01

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- Emma -

Seit ich denken konnte, reiste ich einmal im Jahr in die Heimat meines Vaters - Kanada. Jeden Sommer packten meine Eltern unsere Koffer und reisten mit meiner Schwester Alexandra und mir, zu unseren Großeltern Molly und Wilfred. Während sie nur drei Wochen blieben und im Anschluss zurückreisten, blieben meine Schwester und ich die kompletten sechs Wochen Schulferien dort, ehe es für uns hieß, zurück in die Realität zu kommen und den weiten Weg zurück nach Deutschland anzutreten. Anfangs, als wir noch klein waren, reisten unsere Großeltern, zu unserer Freude, mit uns zurück, blieben ein paar Wochen, ehe sie zurückreisten. Später, als unsere Großeltern die Reise aufgrund ihres Alters nicht mehr antreten wollten, wurde Alex und mir erlaubt allein zu reisen. Wir waren alt genug, dass unsere Eltern wussten, dass wir nichts anstellen würden und vertrauten uns, den weiten Weg ohne Begleitung anzutreten. Natürlich wussten wir, dass die Flugbegleiter stets ein Auge auf uns warfen, aber wir verhielten uns immer vorbildlich, sodass kein Grund zur Sorge bestand.

Je näher die Sommerferien rückten, umso mehr freuten wir uns alle, unsere Familie zu besuchen. Alex und ich redeten wochenlang von nichts anderem, als von unserer Reise in das Heimatland unseres Vaters. Wir überlegten, was wir dort machen könnten, wen wir treffen wollten und was wir anstellen konnten. Die Liste wurde von Mal zu Mal länger, da wir, je älter wir wurden, mehr und mehr Bekannte und Freunde treffen wollten, die wir im Laufe der Jahre in Vancouver kennengelernt hatten. Wir hatten einen eigenen Freundeskreis dort aufgebaut und freuten uns wie kleine Kinder, wenn es hieß, die Sommerferien näherten sich und die Reise würde bald losgehen. Natürlich planten wir zusätzlich genügend Zeit für unsere Familie ein. Die Hälfte der Zeit wurde für sie eingeplant, die andere war für unsere Freunde reserviert. Selbstverständlich ließen unsere Großeltern es sich nicht nehmen, uns die ganze Zeit bei sich wohnen zu lassen und uns zu verköstigen. Im Gegenzug erledigten wir für sie manche Haus- und Gartenarbeiten, erledigten Einkäufe und begleiteten sie zum Arzt. Wir genossen die Zeit sehr, die wir dort verbrachten, auch wenn wir wussten, dass die Zeit, je älter wir wurden, kostbarer wurde. Uns war klar, dass wir eines Tages keine sechs Wochen dort verbringen würden, sondern es, sobald wir im Berufsleben standen, maximal drei sein würden oder gar keine mehr, wenn unsere Großmutter und unser Großvater eines Tages nicht mehr leben würden. Doch daran dachten wir zum damaligen Zeitpunkt keine Minute und genossen die Zeit, die wir zusammen hatten.

Doch leider wurden wir eines Tages plötzlich aus der Realität gerissen, als uns Frank, der Bruder unseres Vaters, mitteilte, dass Großvater Wilfred mit starken Schmerzen ins Krankenhaus eingeliefert wurde und die Nacht nicht überlebt hatte. So schnell wir konnten, packten wir unsere Sachen, schrieben eine Entschuldigung für die Schule und reisten nach Vancouver. Meine Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, entfernte Verwandte, Bekannte und Freunde meiner Großeltern versammelten sich und erwiesen Wilfred Bright die letzte Ehre und trugen ihn gemeinsam zu Grabe. Keine zwei Jahre später folgte unsere Großmutter Molly ihrem Mann. Wieder einmal packten wir alle unsere Sachen und begleiteten unsere Großmutter zu ihrer letzten großen Reise. Meine Schwester Alex war zum damaligen Zeitpunkt bereits zwanzig Jahre, während ich erst achtzehn Jahre alt war, als wir das letzte Mal nach Kanada reisten. Ich stand gerade kurz davor, mein Abitur zu machen, als die traurige Nachricht kam. Ich wurde dadurch dermaßen aus der Bahn gerissen, dass ich mein Abitur nicht abschließen konnte und mich daher entschied, mein letztes Jahr zu wiederholen. Es war für mich die beste Entscheidung, die ich damals treffen konnte. Durch die Reise hatte ich eine Abschlussprüfung verpasst und hatte keine Möglichkeit, diese zu wiederholen. Daher wiederholte ich die dreizehnte Klasse erneut und lernte meinen besten Freund Odysseus Stephanidis kennen. Wir sahen uns und verstanden uns auf Anhieb. Gemeinsam verbrachten wir viel Zeit, lernten zusammen für Klausuren und die Abschlussprüfungen. Wir bestanden beide mit guten Noten und entschieden uns, auf der gleichen Universität zu studieren. Während er sich für Informatik entschied, wollte ich Englisch und Französisch studieren.

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