Kapitel 22

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Ich traute meinen Augen kaum. Vor mir stand Canan, die ich auf der Hochzeit von Eleanor und Louis kennengelernt hatte. Was machte sie im Haus meines Onkels und woher kannte sie sie?

„Ihr beiden kennt euch?", fragte Noah-Skyler mich erstaunt.

„Das kann man so sagen. Ich habe Emma auf der Hochzeit von Ellie kennengelernt. Sie ist die junge Frau, an deren Tisch ich mich gesetzt hatte, als ich kurz meine Beine ausruhen musste."

„Das war Emma? Wie kommst du denn auf die Hochzeit von Ellie und Lou?"

Andy beäugte mich unwissend, während Noah-Skyler von mir abließ und einen Schritt nach hinten trat und sich neben Canan stellte.

„Durch Gemma und Michal. Gemmas Bruder ist ein guter Freund und Arbeitskollege des Bräutigams. Ich schätze, dass sie sich über ihn kennen und deswegen eingeladen wurden. Das erklärt aber nicht, warum ich Canan hier antreffe."

Ich setzte mich auf den Hocker an der Theke zurück und nahm einen Schluck meines Kaffees. Ich wartete auf eine Antwort meiner Gegenüber.

„Sie ist meine Ehefrau", erklärte mein älterer Cousin mir.

„Deine was?"

Entsetzt schaute ich zu Noah-Skyler und hätte mich beinahe an meinem Kaffee verschluckt, den ich trank. Gerade noch rechtzeitig konnte ich die Tasse von meinem Mund nehmen, ohne mich zu bekleckern.

„Sie ist meine Ehefrau", wiederholte er seine Worte.

„Du bist verheiratet? Das ist ein Scherz? Wieso weiß ich davon nichts?"

Ich fühlte mich wie jemand, der vor lauter Bäumen den Wald nicht sah. Mein Cousin hatte mir gerade mitgeteilt, dass er verheiratet war und ich wusste nichts davon. Wieso hatte mir keiner davon etwas gesagt? Wussten meine Eltern überhaupt von der Heirat ihres Neffen?

„Ja, seit zwei Jahren bereits." Er nahm die Hand seiner Frau und hielt sie nach oben. An ihr glitzerte ein schmaler Ehering mit einem Steinchen. Ich blickte ebenfalls an seine Hand, an der ebenfalls ein Ring schimmerte. Ich war baff. „Hat dich keiner darüber informiert? Wir hatten nach der Hochzeit eine Karte an deinen Dad geschickt und hatten uns für das Geschenk bedankt, dass ihr uns zukommen lassen habt."

„Wir haben euch ein Geschenk geschickt?"

Nach wie vor war ich fassungslos. Mein Cousin heiratete, mein Dad schickte ein Geschenk, wir bekamen eine Dankeskarte und keiner hielt es für notwendig, mich darüber zu informieren? Warum hatte er es mir nicht selbst mitgeteilt, in einem unserer vielen Videocalls oder Nachrichten, die wir regelmäßig austauschten? Wieso musste ich in dieses Fettnäpfchen tappen und wurde eiskalt auf den Boden der Tatsachen gezogen?

„Du weißt es wirklich nicht. Okay, dann würde ich sagen, wir erzählen dir alles beim Frühstück."



Nach dem Frühstück war ich um einiges schlauer, als zuvor. Gemeinsam nahmen wir das Essen zu uns, während Noah-Skyler und Canan mich über den aktuellen Stand der Dinge aufklärten. Während ihres vorletzten Studienjahres lernten beide sich per Zufall kennen. Canan verdiente sich mit einem Job als Bedienung ein paar Dollar dazu, um ihr Studium zu finanzieren. An einem Abend kam Noah-Skyler mit seinen Kumpels in die Bar und setzte sich in den Bereich, der Canan gehörte. Direkt als er sie sah, war er hin und weg von ihrer Schönheit und ihrer lockeren Art, die sie an den Tag legte, während sie die Bestellung der Männer entgegennahm. Er flirtete kräftig mit seinen Augen mit ihr. Da Canan wusste, dass ihr Chef nicht davon begeistert war, wenn sie sich auf Gäste einließ, blockte sie seine Flirtversuche ab, obwohl er ihr sehr gut gefiel und sich gerne darauf eingelassen hätte. Dennoch war ihr Job wichtig und sie konnte ihn nicht verlieren. Im Laufe des Abends bemerkte sie die interessierten Blicke des jungen Mannes, den sie bedient hatte. Selbst als seine Kumpels bereits die Bar verlassen hatten, saß er noch an dem Tisch und bestellte Getränke. Kurz vor Schließung der Bar, trafen sie sich vor den Toiletten wieder und rannten ineinander. Beide entschuldigten sich und gingen ihrer Wege. Ein halbes Jahr später trafen sie sich zufällig auf einer Party wieder und kamen direkt ins Gespräch. Sie vergaßen ihre Freunde, mit denen sie auf die Feier gekommen waren, als sich ihre Blicke trafen. In einer etwas abgelegenen Ecke des Gartens hatten sie sich niedergelassen und unterhielten sich fast den ganzen Abend miteinander. Sie stellten fest, dass sie beide auf der gleichen Wellenlänge schwammen und sich gut verstanden. Noah-Skyler fragte nach ihrer Telefonnummer, die sie ihm gerne gab. Wiederrum ein paar Tage später verabredeten sie sich zu einem Date. Doch dieses fand nie statt, da Canan plötzlich zurück in die Türkei musste, da ihr Großvater verstorben war. Die ganze Zeit ihrer Abwesenheit blieben die beiden in Kontakt. Sie schrieben, telefonierten und skypten miteinander. Zwei ganze Monate war sie abwesend. Während dieser Zeit merkte Noah-Skyler, dass sie ihm wichtig geworden war und er war sich sicher, dass sie die Frau war, die er später heiraten würde. Nach ihrer Rückreise nach Kanada, fand das erste Date der beiden statt, danach das zweite, das dritte, ... bis er schließlich nach zwei gemeinsamen Jahren die Frage aller Fragen stellte. Er wusste, dass die Frage womöglich übereilt kam und zu früh gestellt wurde, aber er war sich sicher, dass sie beide glücklich waren und eine Ehe die Liebe der beiden nur verstärken würde.

„Vor zwei Jahren habt ihr also geheiratet und du hast es nicht für notwendig gehalten, mich persönlich darüber zu informieren? Ich bin enttäuscht von dir Noah-Skyler. Wie oft haben wir per Facetime miteinander gesprochen? Wie viele Nachrichten haben wir ausgetauscht? Und du hältst es nicht für notwendig, mir persönlich zu sagen, dass du eine Ehefrau hast? Hast du dich nicht gewundert, dass ich euch nicht gratuliert habe, als ich es hätte erfahren müssen?"

„Ich dachte, du bist in deinem Studium gefangen und hast es deswegen vielleicht verdrängt."

„Ganz sicher. Ganz egal, wie eingespannt ich von meinem Studium war, ich hätte es mir dennoch nicht nehmen lassen, euch zu gratulieren. Ich hätte Canan gerne früher kennengelernt und hätte es nicht erst zwei Jahre später erfahren. Ich bin etwas enttäuscht von dir... von euch allen."

Sie sollten wissen, dass ich es nicht für guthieß, dass sie mich im Dunkeln tappen ließen. So etwas machte man nicht in einer Familie, die sich gut verstand.

„Em, wir können es nicht mehr rückgängig machen. Wir können uns lediglich dafür entschuldigen und geloben, es in Zukunft besser zu machen und dich immer persönlich informieren, wenn es Neuigkeiten gibt."

„Darum bitte ich. Ansonsten werde ich kein Wort mehr mit dir reden, mein Lieber." Drohend hob ich meinen Finger ihnen entgegen. „Ein Kind habt ihr aber nicht? Oder bekommt ihr aktuell nicht?"

„Ich kann dir versichern, dass wir keines haben und auch aktuell keines bekommen. Sollte sich die Situation ändern, werden wir dir höchst persönlich die Information zukommen lassen", erklärte Canan mir, nachdem sie die letzte Stunde schweigsam neben ihrem Mann saß.

„Ich bitte darum. Und zur Bestrafung müsst ihr euer Kind Emma nennen. Egal, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt."

„Wir können darüber reden, wenn es ein Mädchen werden sollte, aber für einen Jungen, da lehne ich ab."

„Das sehe ich anders, Canan. Emma, egal ob Junge oder Mädchen", lachte ich sie an.

„Das werden wir sehen."

„Ich denke, wir haben uns nun genug um das Thema unterhalten, findet ihr nicht?" Meine Tante stand auf und streckte sich, bevor sie in die Küche ging.

„Debbie hat Recht. Wir haben genug Worte darüber fallen lassen und sollten uns nun über andere Dinge unterhalten, als darüber. Also Emma, wie geht es dir hier? Hast du eine nette Familie, bei der du wohnst? Erzähle doch mal von deinem Aufenthalt bisher."

„Ich denke, Emma hat eine schöne Zeit hier", zwinkerte Canan mir zu.

„Und das heißt?", fragte mein Onkel.

„Das heißt, dass sie neben ihrer Arbeit bei ihren Gasteltern nette Bekanntschaften gemacht hat. Hochzeiten haben eine berauschende Wirkung auf Single-Ladies. Nicht war, Emma?" Sie spielte doch nicht wirklich auf Calvin an? Hatte sie mich an dem Abend beobachtet? „Ich habe die Info von Ellie und sie von Louis. Dein Date für den Abend ist der älteste Freund von Lou. Man bekommt so einiges mit, wenn man die Braut kennt."

„Du hast einen jungen Mann kennengelernt? Einen Kanadier? Wie heißt er?"

Familie, man konnte sie lieben oder sie hassen. Aktuell entschied ich mich für hassen.

„Sein Name ist Calvin, er ist achtundzwanzig Jahre alt und ich habe ihn, wie Canan bereits erwähnt hat, auf der Hochzeit kennengelernt."

„Und weiter?", erkundigte sich Andy.

„Nichts und weiter. Wir haben uns bisher nur ein paar Nachrichten geschickt."

„Kein Date bisher?", harkte Andy weiter.

„Nein, kein Date bisher, Andrew Dean Bright. So weit sind wir bisher noch nicht gekommen. Die Hochzeit war erst am letzten Wochenende. Ich war die ganze Woche beschäftigt. Entweder mit den Kindern oder..."

„Oder?", Canan hatte ihre Ohren gespitzt und die Brauen nach oben gezogen.

„Oder mit den Hausarbeiten, mit denen ich beauftragt wurde." Eigentlich wollte ich die Sache mit Harry nennen, aber ich entschied mich in letzter Sekunde um. Es reichte, wenn sie von Calvin wussten. Keiner meiner Familie musste etwas von Harry wissen. Es reichte, wenn ich mich mit dem Thema beschäftigen musste. „A propos Hochzeit, warum warst du eigentlich nicht auf der Hochzeit, wenn deine Liebste eingeladen war, Noah-Skyler?"

„Ich lag krank im Bett."

„Er hatte leichtes Fieber, Schnupfen und Husten. Ich wollte nicht, dass er die anderen Gäste ansteckt, deswegen habe ich ihn gebeten, zu Hause zu bleiben", beendete Canan den Satz ihres Mannes.

Ich nickte zustimmend, dass ich verstanden hatte. Kein Wunder, dass ich meinen Cousin auf der Hochzeit nicht antreffen konnte. Er war krank, lag im Bett und kurierte sich aus. Wahrscheinlich wäre ich rückwärts umgefallen, wenn ich ihn dort angetroffen hätte. Er war älter geworden, aber hatte sich nicht verändert. Er hatte noch immer diesen verschmitzten Glanz in den Augen, wenn er sich freute. Seine Muskeln waren ein wenig ausgeprägter, als ich sie in Erinnerung hatte, aber es stand ihm. Es passte zu Noah-Skyler.



Einige Stunden und ein Essen später, verabschiedete ich mich von meiner Familie. Sie hatten sich kein bisschen verändert und waren noch die gleichen Personen, wie die, die ich in Erinnerung behalten hatte. Obwohl ich anfangs schockiert darüber war, dass mein ältester Cousin geheiratet hatte, hatte ich mich schnell mit dem Gedanken angefreundet und empfand, dass Canan und ich gut miteinander auskamen. Sie schrieb mir ihre Nummer auf einen Zettel und teilte mir mit, dass ich mich jederzeit melden konnte, wenn ich etwas auf dem Herzen hatte oder mich mit ihr unterhalten wollte. Sie begleiteten mich zu meinem Wagen und verabschiedeten sich herzergreifend von mir. Dabei hatte ich versprochen, mich häufiger blicken zu lassen, solange ich hier war.

„Hoffentlich dauert es nicht wieder zwei Monate, bis zu deinem nächsten Besuch", scherzte Frank.

„Nicht, dass ich schwanger bin, bis wir uns wieder sehen", beteiligte sich Canan.

Ich nahm jeden zum Abschluss in den Arm und winkte ihnen, als ich mit meinem Auto das Grundstück verließ.



Zurück bei den Mlynowskis angekommen, stellte ich fest, dass ich allein war. In der Küche lag ein Zettel, dass sie unterwegs seien und ich nicht auf sie warten sollte. Sie würden einen Familienausflug machen und wahrscheinlich über Nacht wegbleiben und erst Sonntagabend zurück kommen. Die Abwesenheit kam mir wie gerufen. Ich hatte keine Lust Gemma zu erklären, warum ich mich für den Abend schicker machte als sonst. Sie würde mich fragen, warum ich abends unterwegs war, obwohl ich samstags häufig mit meinen Eltern und/oder Schwester telefonierte. Ich hatte keine Lust, ihr zu erklären, wohin ich ging und vor allen Dingen, mit wem ich dorthin ging. Bevor ich nach oben ging, schnappte ich mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und nahm den ersten Schluck, während ich die Treppen nach oben ging. Ich würde mir die Zeit bis zu meinem Date mit Musik vertreiben.

In meinem Zimmer angekommen, scrollte ich durch meine Spotify-Liste und blieb letztendlich bei Bruno Mars hängen. Seine Musik hatte ich schon lange nicht mehr gehört und mir war danach. Das erste Lied, welches gespielt wurde war Treasure. Während ich mir meine Kleidung für den heutigen Abend raussuchte, hörte ich zu und sang mit. Ich entschied mich für eine enge Bluejeans und die passende Jeansjacke, darunter würde ich ein rosanes Oberteil mit dem Druck zweier Federn anziehen, welches mir meine Schwester geschenkt hatte. Passend zu dem Outfit, stellte ich meine blauen Sneaker raus. Für den späteren Abend würde ich sicherlich einen Schal benötigen. Auch dieser war schnell gefunden und auf den Berg der Kleidung gelegt. Zuletzt noch Socken, sowie Unterwäsche und ich war fast fertig. Während bereits von Bruno das Lied Natalie lief, begab ich mich ins Bad. Die Musik hatte ich lauter gedreht, dass ich sie auch einen Raum nebenan verstand. Ich drehte das Wasser in der Dusche auf und entledigte mich meiner Kleidungsstücke. Als das Wasser warm war, stieg ich in die Dusche und erledigte die notwendigen Vorkehrungen für den Abend.

Nach dem Duschen hatte ich mich gemütlich fertig gemacht. Ich hatte meine Haare mit einem Lockenstab leicht eingedreht und ließ sie locker auf die Schulter fallen. Als Make-Up entschied ich mich für ein eher dezenteres. Obwohl ich wusste, dass Calvin bald auftauchen würde, ließ ich mir beim Anziehen Zeit. Bequem stieg ich in die Kleidung, die ich mir zur Seite gelegt hatte, sprühte mich mit Deo und Parfum ein und rundete mein Erscheinungsbild mit etwas Lipgloss ab. Zuletzt packte ich meine Tasche um und schlüpfte in meine Schuhe. Ich schaltete die Musik ab und begab mich nach unten ins Erdgeschoss. Calvin hatte mir geschrieben, dass er fünf Minuten später kommen würde, da er in einen kleinen Stau geraten war, ich jedoch gerne draußen auf ihn warten konnte, er würde sich beeilen.

Er hielt sein Versprechen und war kurz nach der angekündigten Zeit angekommen.

„Sorry für die Verspätung, Emma. Der Stau war nicht vorauszusagen", entschuldigte er sich, als er aus dem Auto stieg, es umrundete und seine Arme zur Begrüßung um mich legte. „Ich hasse es, zu spät zu kommen. Ganz besonders, bei einer Frau wie dir, die wieder einmal wundervoll aussieht. Ich muss später aufpassen, dass ich dich nicht an einen anderen Mann verliere."

„Mach dir keine Gedanken. Es ist alles gut. Der Verkehr um diese Uhrzeit ist nun mal die Hölle. Ich verzeihe es dir." Ich drückte ihn ebenfalls. „Und um deine Angst zu lösen, ich werde dir sicherlich nicht davonrennen. Ich bin heute Abend mit dir unterwegs und mit sonst keinem."

„Danke, das weiß ich zu schätzen. Wollen wir dann?"

„Gerne."

Er lief mit mir zu seinem Auto und hielt mir, wie ein Gentleman, die Wagentür auf. Dankend setzte ich mich in den PKW und wartete, bis er ebenfalls einstieg.

„Alle an Bord? Dann kann die Reise beginnen. Nächster Halt, Jahrmarktvergnügen!"

Er startete den Wagen und fuhr los.


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