Kapitel 22

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ADRIK

»Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Es ist mitten in der Nacht– Cher?«, ich öffnete die Tür um einen Spalt weiter, sodass ich Cheryl in meine Wohnung schlüpfen konnte.
»Was ist passiert?«

Cheryl blickte zu mir mit aufgequollenen Augen auf, als hätte sie stundenlang geweint.

»Was ist passiert, Caoimhe?«, ich versuchte von ihren Augen irgendetwas abzulesen, denn ihre Lippen waren so fest zusammengepresst, sie bildeten eine schmale Linie.

»Ich– es tut mir leid, dass ich hier bin und keinen Sex von dir will, aber meine Mutter ist auf Geschäftsreise und Rose hat morgen eine Prüfung und ich darf sie nicht einfach so stören...«, sie sah mich mit ihren großen Augen an, als sie an ihren Fingern spielte. Sie war nervös und ich wollte wissen, warum sie geweint hatte.

»Was ist passiert?«, ich ging in meinem Kopf verschiedene Möglichkeiten durch, die Cher widerfahren haben konnte.
Vater? Nein, der würde nicht einfach so auftauchen.

Rose? Nein, als Rose heute angerufen hatte, um von ihrem Seminar zu berichten, war sie gefüllt mit Begeisterung. In ihrer Stimme hatte keine Trauer gelegen.
Ihre Mutter? Nein, soweit ich wusste, hatte Cher ein sehr gutes Verhältnis mit ihr.

Hatte sie jemanden kennengelernt, der ihr das Herz gebrochen hatte? Nein, sonst hätte sie sich nicht auf mich eingelassen.

»Caoimhe, was ist passiert?«
Einen Moment lang stand sie da wie eine Frau, die ohne Probleme mit Rücksichtslosigkeit allen Leuten gegenüber ihr Leben glücklich führte.

Im nächsten gaben ihre Knie nach, sodass ich nach vorne greifen musste, um sie aufzufangen, damit sie nicht fiel, während sie anfing zu weinen, als hätte ihr jemand das Herz aus dem Körper gerissen.

Ich hörte sie schluchzen und biss meinen Kiefer zusammen, um nichts falsches zu sagen.

Mit einem Ruck hob ich hie in meinen Armen hoch und schlang ihre Beine um meinen Oberkörper. Während sie ihren Kopf in meine Halsbeuge grub bewegte ich uns in mein Schlafzimmer, wo ich sie auf meinem Bett absetzte.

Langsam ging ich auf meine Knie, und öffnete ihre Converse, bevor ich diese von ihrem Fuß abstreifte und mich dann wieder hinstellte, um ihre Jacke zu öffnen. Das war das Minimum, das ich tun konnte, ohne zu wissen, was sie hatte.

»Heute im Krankenhaus...«
»Bereust du es?«, ich konnte mich nicht an einen einzigen Moment erinnern, an dem es ihr nicht gefallen hatte. Vielleicht hätte ich mehr aufpassen sollen, wäre etwas passiert.

»Nein, alles andere...«, ein kleines, schwaches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als sie sich erinnerte.

»Es - danach war alles nur etwas unvorbereitet gekommen.«, sagte sie, streifte ihre Jacke ab und gab sie mir, damit ich sie aufhängen konnte.

»Was kam unvorbereitet?«, ich setzte mich neben sie auf mein Bett und lehnte mich gegen das Headboard.

Cheryl schluchzte ein weiteres Mal, als ich sie an den Hüften nahm und sie auf meinen Schoß zog, so, dass sie mit ihrer Seite gegen meine Brust lehnte, ihre Beine horizontal über meine strecken und ihren Kopf auf meine Schulter legen konnte, während ich über ihren Rücken kleine Kreise rieb.

»Eine Totgeburt.«
Shit.

»Caoim–«, mir fehlten alle nötigen beruhigenden Worte, die ihr in diesem Moment vielleicht helfen konnten.
»Sein Herzschlag lag noch bei 30, nur die Nabelschnur lag um seinen Hals. Wir haben diese sofort entfernt nach der Notsectio aber er lag so leblos in in meinen Händen—«

Bei einem Herzschlag von 30 Schlägen pro Minute würde schon feststehen, dass der Fetus keinen Zugang zur Luft bekam, was tödlich endete, was man auch immer dagegen tun mochte.

Ich traute mich nicht, Cheryl das zu sagen. Es würde sie nur noch mehr brechen, als sie bereits gebrochen war.
»Er sah so gesund aus in den Monitoren. Er war vollkommen ausgewachsen, bereit für die Welt und dann hielt ich ihn–«, Cheryl sprach es nicht aus, aber ich verstand jedes Wort, konnte alles schlussfolgern.

Cheryls Stimme brach mehrmals, als sie schluchzend erklärte, wie sie es aus der Gebärmutter geholt hatte und dachte, es sah gut und gesund aus.

Sie erzählte, wie sie vergeblich nach dem Puls des Babys gesucht und gebetet hatte, es würde ihr auf irgendeine Weise noch ein Anzeichen von Leben zeigen.

»Es musste während dem Hautausschnitt passiert sein. Sein Kopf war nicht blau, die Lippen nicht lila vor Hypoxie, als ich ihn rausgeholte.«
Ich drückte ihren Kopf gegen meine Brust und küsste ihre Schläfe.

Ich konnte nachvollziehen, wie es war, wenn man einen Patienten während einer Operation verlierte. Ich hatte bereits zwei Patienten während ihrer Herztransplantationen verloren und war damals zur Therapie gegangen, da ich nicht damit umgehen konnte, wie Leute, unter meiner Aufsicht, wegen mir starben.

Dennoch wollte ich mir den Schmerz nicht vorstellen, den Cheryl erlitten hatte, als sie ein bereits ersticktes Baby aus dem Körper dessen Mutter hob und vergeblich versuchte, ein Lebenszeichen zu finden.

»Es tut mir so leid, Caoimhe...«, ich drückte sie enger an mich, griff über sie hinweg zu einer Dose Taschentücher und reichte sie ihr.

Normalerweise hätte ich einen Scherz über den Fakt, dass ich Taschentücher bei mir auf dem Nachttisch hatte erwartet, heute sagte Cher nichts und nahm diese nur dankbar an.

Wir blieben für eine ganze Weile so, bis sie sich einigermaßen erholt hatte. Cheryl hatte mittlerweile aufgehört zu weinen, nachdem ich anfing ihr beruhigende Worte zuzuflüstern und ihren Rücken gerieben hatte.

»Leg dich hin.», sagte ich dann und sorgte dafür, dass Cher sich hinlegte. »Ich hole schnell etwas.«

Ich stand vom Bett auf, ging zu meinem Kleiderschrank, suchte ihr ein T- Shirt und eine Jogginghose von mir aus und lief dann hinüber ins Badezimmer, wo ich eine frische Zahnbürste und ein frisches Handtuch für sie bereit legte. Dann holte ich eine frische Packung Nasenspray und lief zurück zu Cheryl.

Vielleicht würde sie darauf bestehen, gleich zu gehen, damit ich in Ruhe schlafen konnte, aber es war zwei Uhr morgens und ich würde sie bei diesem Regen nicht aus meinem Haus gehen. Ich war rücksichtslos, aber es war die beste Freundin meiner kleineren Schwester und Rose würde mich Köpfen, würde Cheryl etwas zustoßen.

»Hier, wenn du dich umziehen willst. Im Bad steht eine grüne Zahnbürste, die ist für dich.«, sagte ich und reichte ihr die Klamotten. Cheryl lächelte mich dankbar an.

Zehn Minuten später kam sie mit gekämmten Haaren, meinen Klamotten und bettfertig aus meinem Bad. Sie legte sich aufs Bett und rollte auf ihre Seite, sodass sie mich ansehen konnte.

Ich hielt die Flasche Nasenspray in ihre Richtung, in der Hoffnung, sie nahm diese an. Sie sah mich fragend an, als ich ihr die kleine Flasche reichte.

»Mach dir das in die Nase, damit du über Nacht nicht mit dem Mund atmest und dann morgen mit Halsschmerzen aufwachst.«, sagte ich nur.

Diesen Trick hatte ich von Rose. Sie hatte während dem Prozess der Scheidung festgestellt, dass sie nach dem Weinen, welches länger gedauert hatte, als eine Stunde, sie mit Nasenspray sofort besser Luft bekam.

Weinen gleichte Schnupfen.
Die Ohren waren benebelt, die Nase lief, war aber gleichzeitig auch blockiert, welches dazu führte, dass man über nacht mit offenem Mund schlief und am nächsten Tag mit einem trockenen Hals und in Roses Fällen auch mit Husten und dann einer Bronchitis aufwachte.

Ich wusste nicht, ob es medizinisch ratsam war, Nasenspray nach dem Weinen anzuwenden, dennoch hatte es Rose und mir geholfen und ich wollte nichts, was so klein war gatekeepen.

»Danke.«, Cheryl putzte sich noch ein weiteres Mal die Nase, bevor sie das Nasenspray nahm und ich mich neben sie auf mein Bett legte.

Ich breitete meine Arme aus, sodass sie sich mit dem Kopf auf meine Brust legen konnte und ich sanft über ihre Haare streichen konnte.

»Danke.«, sagte Cher noch einmal, nachdem ich das Licht ausgeschaltet und noch enger an mich gezogen hatte. »Dafür, dass du mir zuhörst.«

»Bedanke dich nicht bei mir, Caoimhe.«

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