32. Altbekannt und doch fremd

22 3 2
                                    

Ein kühler Windzug ließ Lilly frösteln, als sie gemeinsam mit Gary weiter in den Tunnel vordrang. Sie waren dem Wesen nun ganz nah. Seine schweren Atemzüge ließen die Luft erzittern. Jetzt doch mit einem mulmigen Gefühl im Magen linste sie durch die Gitterstäbe. Wie erwartet, war das Pokémon in etwa so groß wie Lunala. Farblich glich es jedoch eher...
"Das ist ein Solgaleo!"
Lilly schüttelte bei Garys Ausruf ungläubig den Kopf.
"Das kann nicht sein, Solgaleo war doch bei Necrozma."
Und doch hatte er recht. Von ihren Stimmen aufgeschreckt, richtete das Löwenpokémon sich langsam zu seiner vollen Größe auf. Lilly streckte ihm vorsichtig ihre Hand entgegen.
"Du bist verletzt. Wenn du uns lässt, können wir dir-"
Doch das Solgaleo ließ sie nicht. Denn Schwanz steil aufgerichtet senkte es seinen Kopf und öffnete sein Maul. Gary konnte sie gerade noch zurück in den Tunnel zerren, als das Sonnenpokémon ihr ein Strahl pure Energie entgegenspie. Zitternd sah sie auf das Brandloch, welches die Attacke an der gegenüberliegenden Wand hinterlassen hatte. Das war nicht ihr Solgaleo. Gary packte sie an den Schultern.
"Bist du verletzt?"
Sie schüttelte stumm den Kopf. Sie merkte, wie ihre alte Angst sich wieder bemerkbar machte. Sie wollte nicht wieder zu Solgaleo gehen. Sie wollte sich umdrehen und nie wieder auf es treffen müssen. Aber das ging nicht. Sie hatte nicht jahrelang an ihrer Angst vor Pokémon gearbeitet, nur um jetzt wieder in alte Gewohnheiten zu verfallen. Sie spürte Garys prüfenden Blick auf sich.

"Geht es dir gut?"
Sie atmete tief durch.
"Alles in Ordnung."
Ihre Hände zitterten immer noch, als sie langsam in ihre Tasche griff. Deutlich vorsichtiger als zuvor näherte sie sich dem Gitter.
"Wir wissen, dass du hier gegen deinen Willen gefangen gehalten wirst. Wir wollen dich freilassen, aber dafür darfst du uns nicht angreifen."
Gary sah sie entsetzt an.
"Wir wollen bitte was?!"
Sie machte eine scheuchende Handbewegung.
"Pscht!"
Dann streckte sie dem Pokémon ein Knurps entgegen. Misstrauisch schnupperte es daran, und schluckte es schließlich ohne zu kauen herunter. Lilly entfernte einen leeren Pokéball von ihrem Gürtel.
"Ich kann dich nicht zwingen, mit uns mitzukommen. Wir können deinen Käfig nicht öffnen."
Sie streckte den Pokéball ebenfalls durch die Gitterstäbe.
"Wenn du möchtest, kannst du in den Pokéball gehen. Dann nehmen wir dich mit nach draußen."
Lange Zeit sah ihr der Löwe tief in die Augen. Sie wagte kaum zu atmen, als er schließlich den Kopf senkte und seine Nase sanft gegen den Ball stieß. Das vertraute weiße Licht erstrahlte und sog Solgaleo in den Ball. Ungläubig zog Lilly ihre Hand aus dem Käfig. Ihr fassungsloser Blick wanderte zu Gary. Stolz lächelte er sie an.
"Verzeih mir, ich hätte dir gleich vertrauen sollen."
Sie blinzelte dankbar.
"Ich hab mir selbst auch nicht vertraut."
Er deutete auf den Ball.
"Meinst du, er würde uns auf seinem Rücken reiten lassen?"
Sie zuckte mit den Schultern und ließ das Pokémon heraus. Neugierig schnupperte Solgaleo an ihren Haaren.
"Dürfen wir auf deinen Rücken klettern? Mein Freund ist verletzt und ich kann nicht besonders gut laufen."
Das Sonnenpokémon legte kurz den Kopf schief. Dann senkte es den Oberkörper herab. Lilly bedankte sich und zog sich, gefolgt von Gary,  auf seinen Rücken.

Mit fliegenden Pfoten jagte Solgaleo mit seinen beiden Reitern auf dem Rücken durch den Tunnel. Schon bald konnten sie ein fernes Licht ausmachen, das schnell näher kam. Schließlich stieß Solgaleo eine Tür auf und fanden sich zu ihrer Überraschung in dem illegalen Labor wieder. Gary lachte nur.
"Hervorragende Detektivarbeit."
Lilly deutete auf den Eingang.
"Da müssen wir raus."
Solgaleo folgte ihrer Anweisung und stand wenig später mit bebenden Pfoten in der Wildnis von Poni. Die zwei Trainer stiegen ab. Lilly strich ihm lächelnd über das weiche Fell.
"Ist schon gut. Du bist frei."
Ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, machte es einige übermütigen Sprünge in die Luft. Seine Pfoten trommelten über den Boden als er aufgeregt zwischen den Felsen umherjagte. Belustigt sahen sie ihm nach, als Gary Lilly fragend den Kopf zudrehte.
"Was machen wir jetzt mit ihm?"
Die Forscherin seufzte und ihre Mundwinkel sanken nach unten.
"Hierbleiben kann er nicht, auch wenn er hier glücklich ist. Kommissar Wolf würde ihn direkt wiederfinden und einsperren."
Sie dachte kurz nach.
"Die einzige Möglichkeit, die wir haben ist, ihn ebenfalls durch die Ultrapforte zu schicken. Dort kann der Kommissar ihn nicht finden."

Mord im MondscheinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt