3. Kapitel

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Sie.
"Geht's?", fragte ich Nazile, ihr eine Flasche Wasser reichend. Sie saß auf einer der Bänke im Park gegenüber unserer Schule. Sie nickte nur. Ihre Narbe musste sie an unschöne Dinge erinnert haben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie wegen dem Wort 'hässlich' so blass geworden war.
"Willst du immer noch nicht wissen, was es mit der Narbe auf sich hat?", fragte sie nach einer Weile nach.
"Nein. Du musst es mir aus freiem Willen erzählen und wenn du dich dazu entscheidest es mir nicht zu erzählen, dann ist auch gut."
"Du bist so verständnisvoll. Danke."
Kurz schwiegen wir. "Michelle? Hast du Lust und Zeit in die Stadt zu gehen? Ich habe jetzt keine Lust auf Zuhause. Meine Mutter wird direkt merken, dass es mir nicht so gut geht. Ich will der Fragerei entkommen. Also wenn du was anderes vorhast oder kein Bock, dann-" "-nein, ich habe nichts anderes vor und würde sehr gerne mit dir was unternehmen."
"Sicher?", fragte sie schüchtern.
"Zu 101%!" Sie grinste kurz, weswegen ich ihr Grinsen erwiderte. Ich verstand sie, all das hatte ich auch durchgemacht, die besorgten Blicke meiner Eltern, wenn sie merkten, dass etwas nicht stimmte. Sowohl ich als auch Nazile hatten eine Vergangenheit über die wir ungern sprachen, weil sie Schmerzen verbarg. So wie es aussah, waren wir uns ähnlicher, als ich anfangs dachte. Vielleicht hatte ich das auf dem ersten Blick gemerkt, weswegen ich ihr zur Hilfe geeilt war.

Erst als wir in der Stadt ankamen, löste ich mich von meinen Gedanken. Wir verbrachten einen ziemlich spaßigen Tag miteinander, es war ein bisschen wie in den Filmen. Wir hatten geshoppt und danach etwas gegessen. Als ich an den Tag zurück dachte, merkte ich, wie gelungen er war. Es war unmöglich Nazile nicht zu mögen, sie war einfach humorvoll und total naiv, jedoch nicht im Sinne von dumm. Doch sie glaubte an das Gute in Menschen. Das Gute in Menschen, gab's das überhaupt?
Ein anderer Gedanke schoss mir durch den Kopf. Wann war ich das letzte Mal so befreit gewesen? Wann hatte ich stundenlang an nichts gedacht? Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, doch ich schob ihn schnell beiseite.
"Du hast eine neue Freundin, warst du etwa mit ihr unterwegs?", wurde ich während dem Essen von meiner Mama gefragt. Natürlich, Herr Özcan hatte mich verraten. Wie hätte es auch anders sein sollen? Das war der Nachteil daran, wenn der Rektor mit deinen Eltern befreundet war.
"Ja, hatten einen schönen Tag." Ich musste auf das Lächeln meiner Mutter irgendwas aufmunterndes erwidern, das hatten sie und mein Vater verdient. Lang genug hatten sie sich Sorgen um mich gemacht.
"Wie heißt deine neue Freundin? Und wie ist sie so drauf?", fragte nun mein Vater. Freundin. Waren Nazile und ich eigentlich Freunde? Ich merkte wie mich das Gespräch anfing einzuengen.
"Nazile, sie ist Aserbaidschanerin, ganz nett, wir kommen gut klar."
"Das freut mich sehr Maus, schön, dass du nach so langer Zeit endlich wieder Freundschaften schließt." Nach so langer Zeit... Nach über drei Jahren, in denen meine Eltern mit mir gelitten haben. Wegen mir gelitten haben. Es ist alles deine Schuld, Michelle; hörte ich meine innere Stimme zu mir sprechen. Meine Schuld.
"Nazile und ich haben draußen schon gegessen, darf ich aufstehen?"
"Klar Maus", lächlte mir meine Mutter zu. Schnell putzte ich meine Zähne und ging auf mein Zimmer.

Was hatte sie, was ich nicht hatte? Was sie hat, wusste ich nicht, doch was ihr fehlte lag auf der Hand; Loyalität und Ehre. Nachdem ich meine Augen geöffnet hatte, sah ich in meinen Spiegel. Ich hatte wieder meinen kalten Blick aufgesetzt, der Blick, der keine Gefühle zuließ. Wie lange hatte ich damals für diesen Blick vor dem Spiegel geübt? Mittlerweile hatte ich ihn immer drauf, ohne mich anstrengen zu müssen. Dieser Blick war nun der wichtigste Teil von mir. Mein Blick glitt zu dem Bild, was an meiner Wand hang. Das Bild, wo ich vor 4 Jahren noch total glücklich und zufrieden in die Kamera geblickt hatte. Man konnte mir mein Glück förmlich aus den Augen lesen. Zu viel war geschehen. Zu viel Zeit vergangen. Zu viel Verrat passiert. Ohne weitere Gedanken zu verlieren, ging ich schlafen.

Er.
Total entnervt kam ich nach Hause. Ich war gerade mal eine Stunde mit Sara unterwegs, schon hatte sie mir die Energie für die ganze restliche Woche geraubt. Wie konnte ein Mädchen so anstrengend sein?
Nachdem ich mir eine lange Dusche gegönnt hatte, legte ich mich in mein Bett und spielte mit meinem Handy rum.
>Wie wars mit Sara?< Eymen.
>Deine Frage sollte eher lauten 'Was weißt du nun alles über Nazile?'<
>Hör auf so ein Arschloch zu sein und antworte.<
>Auf deine Frage oder meine Korrektur?<
>Du bist so ein Spast.<
>Hab ich von dir. Die Antwort auf deine Frage ist: miserabel, grauenvoll, der Horror! Die Antwort auf meine Korrektur kriegst du in der Sprachaufnahme zu hören.<
>Sie war verlobt?<, fragte er mich, nachdem er sich meine Sprachnachricht angehört hatte.
>Hab ich doch gesagt Eymen.<
>Okay.<
>Bist du jetzt enttäuscht? Vielleicht ist sie doch nicht so toll, wie du über sie denkst. Schließlich hat sie die Verlobung aufgelöst. Sie war nicht mal im Stande dazu auf ihren Verlobten zu warten.<
>Halt die Fresse Milad.<
>Du weißt genau, dass ich recht habe.<
Obwohl er die Nachricht gelesen hatte, gab er mir keine Antwort. Wie du willst Eymen, ich weiß, wie ich dich von ihr abbringe.
Mit der Stimme meiner Mutter ging ich runter zum Essen. Als ich meinen älteren Bruder am Tisch sah, wunderte es mich, da er unser Zimmer nicht betreten hatte.
"Sind wir auf Kriegsfuß oder wieso hast du das Zimmer nicht betreten, Çağdaş?", scherzte ich. Obwohl mein Bruder 5 Jahre älter als ich war, nannte ich ihn beim Namen und nicht 'Abi'. Das passte meinen Eltern so gar nicht, aber sie hatten sich mit den Jahren damit abgefunden. Na ja zumindest meckerten sie nur dann deswegen rum, wenn ihnen etwas anderes nicht passte. Was anscheinend heute der Fall war, das verriet mir der Blick meines Vaters. "Wie oft habe ich dir gesagt, dass das Abi heißt? Çağdaş ist ganze 5 Jahre älter als du, Milad!"
"Was ist das eigentliche Problem Baba? Wieso bist du wütend auf mich?"
"Was läuft zwischen dir und Sara?", fragte er nun im ernsten Ton. Ich hätte ahnen sollen, dass das noch Ärger geben wird.
"Sara? Sara wer?", hakte meine jüngere Schwester mit geweiteten Augen nach.
"Die aus meinem Chemiekurs."
"Die Schlampe?"
"Selen! Rede anständig!", erhöhte meine Mutter ihre Stimme.
"Sorry, aber ist die Wahrheit." Meine Mutter schüttelte nur genervt den Kopf, während mein Vater die Situation gar nicht beachtete, da er eine Antwort von mir erwartete. Und Çağdaş beobachtete die Situation mit einem fetten Grinsen im Gesicht. So ein Penner! "Nichts Baba. Da läuft wirklich nichts." "Wieso seid ihr dann Arm in Arm durch die Schule gelaufen?"
"WAS?! Ihr seid was? Kaum habe ich früher Schluss schon passiert irgendwas interessantes. Wie viel Pech kann ein Mensch nur haben?", fragte Selen dramatisch.
"Selen, halt deine verdammte Fresse!"
"Rede anständig mit deiner Schwester, Milad!" Nach diesen Worten von meinem Vater und Selens triumphierendem Grinsen im Gesicht wollte ich aufstehen, doch die nächsten Worte meines Vaters hielten mich auf. "Du wirst diesen Tisch nicht verlassen, bis du mir eine Antwort geliefert hast. Haben wir uns verstanden?"
"Ich habe dir geantwortet Baba. Zwischen uns läuft nichts!" Ich hatte meinen Stuhl nach hinten geschoben, um aufzustehen. "Falls du mich anlügen solltest Milad, falls ich etwas anderes mitbekommen sollte oder du mit diesem Mädchen wirklich was anfangen solltest, kannst du dir eine andere Bleibe suchen. Ich habe dich nicht erzogen, damit du deine Zeit mit dir unwürdigen Mädchen verbringst! Ich werde dir nicht nochmal dabei zu sehen, wie du dein Leben aufgibst! Nur weil du mittlerweile 18 bist, ist das kein Freischein für alles. Hast du mich gehört?" Am liebsten hätte ich nur deswegen noch mehr Zeit mit Sara verbracht, doch ich hatte keinen Nerv für dieses Mädchen, ehrlich nicht.
"Schön, wie du über mich denkst." Nach diesen ironischen Worten stand ich auf und ging auf mein Zimmer.

Die Zimmertür wurde ohne Klopfen geöffnet, weswegen ich ohne aufzublicken "Selen raus!", rief.
"Nope. Du bist mir Erklärungen schuldig Bruderherz."
"Ich bin dir gar nichts schuldig, Nervensäge." "Oh doch! Was läuft zwischen dir und Sara? Ich meine, wir reden über Sara! Wie kannst du nur? Allein ich, als ein Mädchen, finde sie schon grauenvoll! Wie hast du es nur mit ihr ausgehalten? Dabei hast du ja nicht mal für mich wirklich viel Geduld! Liebe macht anscheinend doch blind." Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, hörte ich nur Çağdaşs Stimme: "Selen, kannst du uns bitte in unserem Zimmer alleine lassen und Ruhe geben? Danke", während er sprach, schob er sie aus dem Zimmer.
"Danke."
"Was geht in deinem Kopf vor, Milad?"
Ich schnaubte. "Fang du jetzt auch nicht an damit, Çağdaş!"
"Raus mit der Sprache Milad. Ich weiß, dass du Sara auf den Tod nicht ausstehen kannst. Meintest du nicht erst letztens, dass sie eine Mickeymouse Stimme hat? Also, woher kommt dieser Sinneswandel?"
"Spielt das eine Rolle Çağdaş?"
"Vermutlich sogar eine sehr wichtige!"
"Da ist ein neues Mädchen-" Bevor ich aussprechen konnte, unterbrach mich mein älterer Bruder. "-ist das dein Ernst? Wann wirst du endlich dazu lernen? Wie oft habe ich dir gesagt, dass du das sein lassen sollst? Ist es wirklich so spaßig Menschen zu vernichten? Denk an Gizem-" "-ES REICHT! Ich hab kein Bock mehr darauf, dass du dauernd Gizem erwähnst! Das war nicht meine Schuld. Ich habe mit der Sache rein gar nichts zu tun. Wenn du mit deinen Gewissensbissen nicht klar kommst, ist das deine Sache, nicht meine."

"Sarp, hast du Zeit?", fragte ich diesen am Telefon. Auf das Gelaber von Eymen hatte ich derzeit echt keinen Nerv. Abgesehen davon trank er nicht, weswegen es also keinen Sinn machte ihn anzurufen.
"Klar, immer doch. Wird Eymen auch kommen?"
"Nein, lass eine Runde zu zweit machen." "Okay, dann weiß ich, was du brauchst und willst", sprach er lachend.
Als ich ankam, standen schon Wodka und Tequila bereit, weswegen ich grinste. "Das gefällt dir, was?"
"Willst du mir nicht erzählen, was los ist?", forschte Sarp nach einer halben Stunde nach. Der Wodka war halbiert.
"Immer dasselbe. Unnötiger Stress Zuhause. Çağdaş meint auch sich aufspielen zu müssen, als ob meine Eltern nicht reichen würden. Und dann noch Selen, die Nervensäge."
"Selen wird wohl immer dieselbe Hexe bleiben", lachte er. "Und gegen deine Eltern kannst du nichts machen, außer du ziehst aus, so wie ich." Ich atmete tief aus und griff erneut zur Flasche.

Sie.
"Dann hast du wohl heute mehr Glück als ich. Zumindest wirst du in Chemie deine Ruhe haben", sprach Nazile. Ihre Anspielung betraf Milad, der heute fehlte, nicht nur er, sondern auch Sarp. Für mich war das ein fetter Pluspunkt. Vielleicht war das doch keine so schlechte Woche, zumindest für mich. Denn Eymen war anwesend, somit hatte Nazile einfach nur Pech.
"Wusste gar nicht, dass dich Eymens Anwesenheit stört", bemerkte ich spitzbübisch.
"Man Michelle! Du weißt genau, dass es das tut."
"Ach ja? Wie kommts zu diesem Sinneswandel?" Sie sah mich nur an. In ihrem Blick lagen Trauer und Enttäuschung. Doch wieso? "Alles gut bei dir? Habe ich etwas falsches gesagt?"
"Nein, nein. Also es ist alles gut und du hast nichts falsches gesagt."
"Sicher Nazile?"
"Ja, ziemlich sicher."
"Wenn du reden willst, dann-" "-danke, aber es ist echt alles gut." Auch wenn ich merkte, dass etwas nicht stimmte, war ich doch ganz froh, dass sie es nicht mit mir teilte. Zu lange hatte ich mich vor Gefühlen ferngehalten und nun hätte ich nicht gewusst, wie ich es handhaben sollte, wenn jemand seine Gefühle mit mir teilen würde.
"Dann lass uns aufbrechen", unterbrach ich die komische Stille, die zwischen uns entstanden war.
"Viel Spaß!", rief sie mir zu, als wir uns voneinander trennten, weil wir in unterschiedliche Räume mussten.
"Danke, den werde ich heute ganz bestimmt haben!", rief ich ihr grinsend zu, worauf im Flur ihr Lachen zu hören war.
Eine Chemiestunde ohne Milad, konnte es was besseres geben? Natürlich nicht! Denn heute gab es niemanden neben mir, der nervte. Niemand, der freche Bemerkungen von sich gab. Einfach ein total friedlicher und normaler Unterricht.
Während ich total zufrieden im Chemiesaal saß und meinem Lehrer zuhörte, klopfte es 5 Minuten nach Unterrichtsbeginn an der Tür. Und mein persönlicher Albtraum trat grinsend in den Chemiesaal. Wieso zur Hölle hatte er den ganzen Tag gefehlt, doch kam ausgerechnet jetzt zur Schule? Sonst war ihm der Unterricht doch auch total Schnuppe. Die Antwort lag auf der Hand; ich war verflucht dazu Pech zu haben. Es wäre auch zu schön gewesen.

Hoffentlich hattet ihr viel Spaß beim Lesen meine lieben Zuckermenschen ❤

Eure Verâ ♡

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