9. Kapitel

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Sie.
Gerade als ich mir mein Pyjama Oberteil anziehen wollte, hielt ich inne. Ich stellte mich vor den Spiegel und betrachtete meine Narbe an meinem rechten Unterbauch, kurz über meinem Beckenknochen. Im Gegensatz zu Naziles Narbe war meine ovalförmig. Als ich über sie strich, spürte ich wie sie brannte. Nein, daran wollte ich nicht denken. Ich öffnete meine Augen wieder und begegnete meinem kalten Blick. Nur eine Fassade. Eine Fassade, die nichts über mich verriet, nichts über meinen Schmerz. Es brachte nichts über all das nachzudenken, ich war nun mal bis ans Ende meines Lebens gebrandmarkt. Nachdem ich mir mein Pyjama Oberteil angezogen hatte, fiel ich in einen Schlaf voller Träume. In einen Schlaf voller Albträume.

"Ich muss gleich zu deiner Oma fahren, ihr geht's nicht so gut. Dein Vater hat heute 24 Stundendienst, du hast also Sturmfrei, wenn du willst, kannst du deine Freundin zu uns einladen."
"Kann ich nicht mit dir zu Oma kommen, Mom?"
"Nein Mimi, du wirst die Schule nicht schwänzen. Abgesehen davon willst du wirklich mit mir nach Leipzig fahren?" Das war das letzte, was ich wollen würde. Doch zur Schule wollte ich auch nicht. Zumal es Montag war.
"Aber vielleicht braucht Oma mich? Außerdem wohnt sie außerhalb."
"Wobei soll sie denn deine Hilfe brauchen? Ich werde doch bei ihr sein. Außerdem zweifele ich daran, dass es ihr wirklich so schlecht geht, wie sie mir vorspielt. Sie ist allein und das macht sie depressiv."
"Dann soll sie zu uns kommen."
"Das habe ich ihr schon angeboten, aber sie meint, sie kann ihre Freunde nicht allein lassen. Du weißt, dass sie ein schwieriger Umgang ist."
"Dann richte ihr schöne Grüße aus."
"Das mache ich. Brauchst du Geld? Soll ich dir etwas da lassen?"
"Nein Mom, habe genug. Danke." Sie nickte kurz und verschwand durch die Tür. Schnell räumte ich meinen Teller und Becher in die Spülmaschine und verließ das Haus.

Ich hatte in der erste Doppelstunde Ethik. Mit Milad. Gab es etwas, was schlimmer war? Als ich seinem Blick begegnete, wand ich meinen sofort ab und wurde rot. Oh Gott! Wieso hatte ich auch so einen bescheuerten Traum gehabt? Ich hatte Milad geküsst. Ich. Absurd, absurder, mein Traum. Eigentlich hatte ich nicht Milad geküsst, sondern Rafael. Als ich mich von dem Kuss gelöst hatte, stand nicht mehr Rafael vor mir, sondern Milad. Die nächste Frage war; was war schlimmer? Rafael zu küssen oder Milad? Beides war schlimm. Beides war der Horror.

"Michelle? Geht's dir gut?", fragte Nazile behutsam, erst jetzt bemerkte ich, dass sie schon anwesend war.
"Ich denke schon."
"Du siehst so blass aus. Geht's dir wirklich gut?"
"Habe schlecht geträumt und somit auch schlecht geschlafen." Als ich an meinen Traum dachte, schüttelte ich meinen Kopf. "Dann geh doch einfach nach Hause, wenns dir nicht so gut geht."
"Nein, das passt schon." Ich wollte nicht alleine sein, nicht heute.

"Das Thema unserer ersten Stunde ist Liebe. Wir werden uns eine halbe Stunde lang, die Ansicht einiger Philosophen diesbezüglich durchlesen und danach steht eine 15-minütige Diskussion über eure eigene Meinung an." Hatte ich schon mal erwähnt, dass ich dieses Fach hasse? Nein? Dann tue ich das jetzt; ich hasse Ethik! Was war das für ein Thema? Wir waren doch nicht in der Grundschule. Wieso konnte sich diese Frau einfach nicht an den Lehrplan halten, so wie jeder andere Lehrer es tat?

Ich seufzte. Wir exzerpierten irgendwelche Texte, die kein Schwein verstand, aber trotzdem einen wichtigen Wert in der Literatur hatten, zumindest nach Aussage unserer Lehrerin.
"Was ist eure persönliche Meinung zur Liebe?", fragte sie dann in den Raum. Niemand meldete sich, weswegen sie Eymen aufrief. Liebe existiert nicht, teilte er dem Kurs mit. Wow, wie erleuchtend!
"Natürlich tut sie das. Nur weil du keine Ahnung hast, heißt das nicht, dass sie nicht existiert!", entgegnete Nazile ihm. Ich wusste nicht wieso, aber ich hatte das Gefühl sie von dieser Diskussion abhalten zu müssen. Doch ich tat es nicht, denn ich sah, dass es ihr gut tat, sich gegen Eymen aufzulehnen. "Das, was ihr Mädchen als Liebe bezeichnet, basiert nur auf körperlicher Begierde. Sobald diese gestillt ist, verfliegt die Liebe. Oder sobald man jemanden gefunden hat, der besser aussieht oder einem mehr bieten kann."
"Vielleicht gilt das für dich. Aber nur weil du dich so benimmst, kannst du das nicht verallgemeinern."
"Ach ja? Was ist denn in deinen Augen Liebe? Mit einem Häftling eine Beziehung zu führen?" Ich hätte Nazile doch aufhalten sollen. Was es genau auf sich hatte mit dem Häftling, wusste ich nicht, doch es gingen die wildesten Gerüchte um Naziles Freund oder Verlobten rum. Gefragt hatte ich sie diesbezüglich nicht, wenn sie es mir anvertrauen wollte, dann würde sie das tun. Sie danach zu fragen, wäre eine indirekte Aufforderung, es mir zu erzählen. Ich fasste sie leicht am Arm, doch sie war so in Rage, dass sie mich nicht beachtete.
"Wenn man ihn wirklich liebt, dann ja. Nur weil jemand im Gefängnis ist, heißt es nicht, dass er ein schlechter Mensch ist oder ein schlechter Partner. Jeder macht Fehler. Vielleicht ist er in den Augen aller böse, aber trägt dich auf Händen, weil er dich liebt. Wenn du aufrichtig liebst, dann wird der schlechteste Mensch zum perfektesten.
Seine Liebe aufzugeben, weil euch Steine in den Weg gelegt werden, ist schwachsinnig! Was für einen Sinn hat da noch die Liebe, wenn man nicht füreinander kämpft? Wenn man jemanden wirklich liebt, dann spielt es keine Rolle, wer er ist, woher er kommt oder was für Fehler er getan hat. Wenn man jemanden liebt, wirklich liebt, dann wird er in deinen Augen der perfekte Mensch, auch wenn ihn der Rest der Welt hasst." Wow, das waren Worte, die aus dem Herzen kamen. So wie es schien, liebte sie ihn wirklich. Und wer wusste schon, wieso er im Knast war.
"Du redest Schwachsinn. Und das wirst du spätestens dann bemerken, wenn er deine und seine sexuellen Bedürfnisse gestillt hat." "Du bist ein mieser Dreckskerl! Das gilt nur für schwanzgesteuerte Arschlöcher wie dich!" Stille. Als die Schulklingel läutete, kündigte unsere Lehrerin eine fünf minütige Pause an. Nazile verließ als Erste das Klassenzimmer. Als ich zu Eymen sah, zitterte er vor Wut. Was zur Hölle... lief zwischen den beiden? Ich wurde einfach nicht schlau daraus.
Als ich Nazile auf der Toilette auffand, sah sie total aufgelöst aus. Sie klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht.
"Geht's?" Sie nickte nur.
"Sorry. Ich glaube, ich habe die Sache schlimmer gemacht. Du musst mir nicht beistehen und mich beschützen", nuschelte sie.
"So ein Mist. Ich finds cool, wie du Eymen konterst, dass macht ihn rasend. Das hebt meine Laune", grinste ich sie an, doch sie brachte nur ein schwaches Lächeln zustande.
"Michelle, ich muss dir etwas erzählen", piepste sie. Mit hochgezogenen Augenbrauen, musterte ich sie, jedoch wurde die Tür aufgerissen und Sara und diese Begüm traten in die Toilette.
"Lass die Finger von Eymen!", zischte Begüm.
"Halt die Klappe Begüm."
"Mit dir hat niemand geredet, Michelle." Bevor ich etwas erwidern konnte, zog mich Nazile aus der Toilette.
"Hey! Das wurde doch gerade spannend!", lachte ich, aber Naziles Blick verriet mir, dass sie keinen Nerv auf sowas hatte. Verständlich. "Sorry", sprach ich ehrlich. Erneut beschenkte sie mich mit einem Lächeln.

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