7. Kapitel

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Sie.
"Ich habe mitbekommen, dass ihr wieder einen Kleinkrieg führt."
"Scheint so."
"Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?" "Was soll ich denn sonst sagen Çağdaş? Du kennst deinen Bruder, besser als ich es tue. Ich habe nie aufgehört seine Zielscheibe zu sein, doch das macht mir nichts. Aber ich werde nicht dabei zu schauen, wie er nochmal das Leben eines Mädchens zerstört." Er atmete tief durch. "Ich werde mit ihm reden. Aber du musst mir helfen." "Wobei helfen?"
"Versuch bisschen mehr Rücksicht auf ihn zu nehmen. Du weißt, dass er frustriert ist und deswegen so handelt."
"Er ist nicht der einzige, der etwas durchmachen musste."
"Dem bin ich mir bewusst Michelle, aber Milad ist nunmal so, er verarbeitet seinen Schmerz anders."
"Falsch, er verarbeitet ihn nicht, er wandelt ihn in Frust um, weswegen er sich dazu berechtigt fühlt anderen Unrecht zu tun." "Michelle, bitte." Ich nickte nur, doch dieser Krieg hatte eine andere Dimension angenommen, ich würde es nicht zulassen, dass Milad nochmal gewann. Er sollte bluten, so wie ich geblutet hatte. Er hatte mir meine Hoffnung genommen, also sollte er jetzt zu sehen, wie er damit klar kam.

Gerade als ich aufstehen wollte, betrat Selen die Küche.
"Kommst du vom Fitness?", fragte ich sie.
"Ja, deswegen kann ich dich jetzt nicht umarmen, muss erst duschen", sprach sie lachend.
"Du und deine Liebe zu Fitness, muss ich das verstehen?"
"Kommt davon, wenn man zwei ältere Brüder hat."

Während sie duschen ging, räumte ich das Geschirr in die Spülmaschine und ging hoch. Oben angekommen, begegnete ich Milad. Wir blickten uns beide in die Augen. Kurz und doch so lang. Ich wandte meinen Blick ab und betrat Selens Zimmer.

"Nazile hat Eymen heute wohl richtig ihre Meinung gegeigt." Es war eher eine Aussage, als eine Frage. Ich lachte und sah zu Selen, die sich mit einem Tuch die Haare trocken rubbelte.
"Dein Bruder tratscht mehr als ein Mädchen. So machst du deine Haare kaputt Selen." "Meinen Haaren passiert schon nichts." Sie setzte sich vor mich und atmete tief durch. Irgendwas bedrückte sie.
"Du weißt, dass ich es ekelhaft finde, was mein Bruder tut, also dieser ganze Mobbing Scheiß. Und normalerweise hätte ich Naziles Worte gefeiert aber-" "-aber was?"
Wieso hatte ich die Befürchtung, dass ich jetzt irgendwas zu hören kriegen würde, was mir nicht gefallen würde?
"Eymen musste die siebte Klasse wiederholen, weil seine Mutter verstarb. Sie war schwanger. Sie und das Baby haben die Geburt nicht überlebt. Eymen sollte eine Schwester bekommen." Konnte sich meine innere Stimme nicht ein einziges Mal täuschen? Nur ein einziges Mal?
"Wer ist dann die Frau, die ihn am Dienstag abgeholt hat?"
"Meinst du seine Tante?"
"Nein, ich rede nicht von der Rothaarigen, die öfters vorbei kommt, dass die seine Tante ist, weiß ich. Sie hatte etwas längere braune Haare."
"Ach so, das ist seine Stiefmutter. Sein Vater hat letztes Jahr mit ihr geheiratet."
"Ich dachte, dass wäre seine Mutter." Sie schüttelte nur ihren Kopf. "Wieso holt ihn seine Tante eigentlich so oft ab? Ich meine, er ist doch kein kleines Kind mehr."
"Sein Vater hat Gewissensbisse. Er denkt, dass er sich nicht genug Zeit für Eymen nimmt, deswegen hat er seine Schwester auf Eymen angesetzt."
Kurz dachte ich über Selens Worte nach. "Das soll unter uns bleiben Selen. Ich will nicht, dass Nazile etwas davon erfährt. Sie würde sich schuldig fühlen und ein schlechtes Gewissen würde sie plagen." Vielleicht würde sie sich dann sogar von Eymen erniedrigen lassen.
"Okay, ist kein Problem."

Er.
Während ich mit meinem Motorrad zu Eymen fuhr, sah ich immer wieder ihre blauen Augen vor mir. Ihre blauen Augen, die mich mit eisiger Kälte ansahen. Hatte ich das nicht verdient?
Erst als ich auf das Tachometer sah, bemerkte ich, dass ich etwas zu schnell fuhr, doch das war mir egal, ich wollte noch schneller fahren, weswegen ich auf die Autobahn fuhr.
120, 150, 180, 200.
Erst als ich spürte wie der Wind hart gegen meinen Körper schlug, beruhigte ich mich einigermaßen und schaffte es ihre Augen vor meinem inneren Auge zu verbannen. Wieso dachte ich nur an sie? Den Grund kennst du besser als jeder andere, sprach meine innere Stimme.
An der nächsten Ausfahrt bog ich ab und fuhr auf direktem Weg zu Eymen.

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