Er.
Ich trage dir gegenüber keinen Hass in mir, hallte es den ganzen Tag in meinem Kopf. Nur wusste ich nicht, wie ich diesen Satz beurteilen sollte. Was hatte Michelle damit nur gemeint?
Nach der Schule fuhr ich mit meinem Motorrad auf die Autobahn. Je mehr sich der Zeiger des Tachometers nach rechts legte, umso besser fühlte ich mich.An einem Waldrand bog ich ab und fuhr den holprigen Weg entlang. Bis zu einem kleinen Picknick Ort. Mehrere Bänke mit Tischen standen dort, etwas weiter unten floss ein Bach. Die Blätter hingen nicht mehr an den Bäumen, sondern verwesten auf dem Waldboden.
"Çağdaş, kommst du an den Picknick Ort, wo wir früher immer waren?", fragte ich in mein Handy, als Çağdaş abhob. Früher... Als Eymens Mutter noch am Leben war.
"Dir auch Hallo. Was willst du um diese Jahreszeit dort?" Wieso hatte ich nochmal meinen Bruder angerufen? Weil du mit Eymen Streit hast, erinnerte mich meine innere Stimme. Und weil dich niemand besser als Eymen und Çağdaş kennt. Und weil Çağdaş auch sie gut kennt. Das waren eindeutig genug gute Argumente.
"Ich werde es dir erklären, sobald du hier bist."
"Milad-" "-Abi ein einziges mal, ein einziges mal, verlange ich etwas von dir, ich bitte dich darum, komm einfach. Ich brauche deinen Rat. Bitte Abi."
"Ich bin in einer halben Stunde da."
"Danke."
Ich wusste, dass er nur kam, weil ich ihn Abi genannt hatte. Etwas, was ich normalerweise nie tat, trotz der 5 Jahre Altersunterschied, außer wenn ich ihn dringend brauchte. Eine Angewohnheit von früher."Okay, jetzt erzähl mir, was mit dir ist. Erst forderst du mich gestern dazu auf dir meinen Schlüssel zu geben, darauf verschwindest du mit Michelle und jetzt bestellst du mich hier her. Was zur Hölle ist los mit dir, Milad? Wieso hast du überhaupt mich gerufen und nicht Eymen?"
"Weißt du, Çağdaş, manchmal habe ich das Gefühl, dass Almilas große Klappe auf dich abfärbt."
Mein älterer Bruder blitzte mich böse an. "Rede anständig über meine Verlobte!"
"Es ist nur die Wahrheit, außerdem habe ich nichts böses oder unanständiges gesagt."
"Ist gut Milad. Also ich bin hier -und nicht Eymen- weil ihr auf Kriegsfuß seid, habe ich recht?"
"Woher weißt du das?", forschte ich nach. Hatte mich Selen verpetzt?
"Ich kenne euch, seitdem ihr kleine Hosenscheißer seid. Außerdem vergisst du, dass wir eine sehr gesprächige Schwester haben." Vielleicht färbte auch Selens große Klappe ab, nicht Almilas, doch diesen Gedanken sprach ich lieber nicht laut aus. "Ja, wir haben Stress, aber das legt sich wieder. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Versuch bitte auch nicht den Streitschlichter zu spielen. Mein Problem ist Michelle-" "-gestern hatte ich noch gedacht, dass du sie endlich in Ruhe lassen wirst und heute? Milad du bist unfassb-" "-halt deine Fresse, Çağdaş und hör mir einfach zu. Ich will endgültig Frieden. Aber Michelle setzt immer diese kalte Maske auf, weswegen ich einfach nicht schlau aus ihr werde. Du musst mir helfen, Çağdaş. Wie verstehe ich, was sie denkt? Wie es ihr geht? Wie sie etwas meint?"
Çağdaş lachte kurz. "Michelle trägt keine Maske, Milad, das Problem liegt an dir. Du siehst diese Maske, weil du dir deine Gefühle nicht eingestehst. Das selbe Problem hatte ich auch mit Gizem damals, bevor-" "-Çağdaş, du wirst bald heiraten, komm endlich über deine Gewissensbisse hinweg!" "Du kleiner Hosenscheißer hörst mir jetzt zu, dann weißt du nämlich, wieso ich über meine scheiß Gewissensbisse nicht hinweg komme. Du weißt, dass ich Gizem nie in Schutz genommen habe, als sie gemobbt wurde, dabei hätte ich das ohne Probleme tun können, ohne Angst zu haben, dass mir dasselbe widerfahren wird, aber ich war zu feige, dafür gibt es keine Entschuldigung. Und nichts macht das gut. Irgendwann kamen wir in Kontakt. Es war kein Zufall, es war Schicksal. Es war eine Prüfung von Gott, die ich verloren habe. Eine Prüfung in der ich beweisen sollte, wie mutig ich war. Gizem wurde mir mit der Zeit immer wichtiger, doch ich wollte mich nie in der Öffentlichkeit mit ihr treffen, weswegen wir uns öfters in der Uni Bibliothek zum Lernen trafen. Es war falsch von mir Gizem Hoffnungen zu machen und sie jedes mal vor ihren Mobbern alleine zu lassen. Irgendwann hatte ich dann den Mumm, doch Gizem hatte damals schon ihren Entschluss gefasst, weswegen sie sich von mir fernhielt. Eines Tages nahm ich sie in Schutz, doch sie sagte vor allen, ich solle es sein lassen, das alles hätte ab heute keinen Sinn mehr. Natürlich verstand ich nicht, was sie meinte. Ich war wütend auf sie, habe sie an ihrem Arm gezerrt und in eine stille Ecke gebracht, dort habe ich meine Wut an ihr ausgelassen. Von wegen was würde ihr dabei einfallen zu sagen, ich solle es sein lassen. 'Ich brauche deinen Schutz nicht Çağdaş, ich kann mich selber schützen. Lass mich in Ruhe, halt dich einfach fern von mir', das waren ihre letzten Worte an mich. Ich fühlte mich in meinem Stolz gekränkt, dabei hatte ich sie in ihrer Seele gekränkt. Ohne es zu wissen. Wenn ich heute zurück denke, dann hätte ich es verhindern können, entweder als wir anfingen uns zu treffen oder spätestens dann, als sie ihre letzten Worte zu mir gesprochen hatte. Ich habe es gesehen, Milad. Ich habe in ihren Augen gesehen, was sie vorhatte. Nur habe ich nicht aufmerksam genug hingeschaut. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass ihre Seele so kaputt war und sie diesen Schritt gehen würde. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass sie sich ihr Leben nehmen wollte. Ich bin Mitschuld an ihrem Suizid. Es hätte nicht soweit kommen müssen. Ich weiß nicht, ob ich sie während unserem letzten Gespräch wirklich hätte davon abhalten können, doch ich weiß, dass ich es davor tun konnte. Doch das habe ich nicht. Deswegen bereue ich es heute noch. Und vermutlich mein ganzes Leben noch. Wenn du hinter Michelles Fassade blicken willst, musst du dir erst deine eigenen Gefühle eingestehen und zu ihnen stehen."
"Was meinst du, Çağdaş?"
"Gesteh dir endlich ein, dass du Gefühle für Michelle hast-" "-das stimmt ni-" "-hör mir zu Milad! Vielleicht hast du jetzt die Chance alles für dich zu nutzen, vielleicht ist es aber auch zu spät. Ich weiß es nicht. Aber wenn du es nicht versuchst, dann wirst du verlieren. Für immer. Du wirst bereuen. Eine Leben lang. Deswegen gestehe dir endlich deine Gefühle ein und steh zu ihnen, anders wirst du nicht vorankommen."
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RandomSie. Diese Wut in mir würde mich umbringen, ich hatte das Bedürfnis alles um mich zu schmeißen, ohne darauf zu achten, ob es danach in Trümmern lag oder nicht. Denn genau das hatte man tagtäglich mit mir gemacht. Die Einsamkeit, Trauer und Verzweifl...