10. Kapitel - Part II

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Sie.
"Du warst verliebt, nicht dumm."
"Doch Michelle, ich war dumm. Den Grund wirst du gleich erfahren. Auf jeden Fall saß ich eines Tages in der Freistunde alleine und quälte mich mit Mathe, weil ich es einfach nicht verstand. Ein Mitschüler von mir saß sich zu mir und fragte mich, ob ich Hilfe brauchte. Er hat mir dann geholfen und ich war ihm in dem Moment so dankbar, das glaubst du mir gar nicht. Als ob er eine tausend Tonnen schwere Last von meinen Schultern genommen hätte. Wir haben uns eben noch etwas unterhalten und uns über einige Lehrer lustig gemacht. Alles total harmlos, nichts was man übertreiben müsste. Als Elvin mich dann von der Schule abholte, fragte ich ihn, was er hatte. Er war so wütend. Doch anstelle mir zu antworten, befahl er mir nur in den Wagen einzusteigen und ich befolgte seinen Befehl. Im Auto versuchte ich durch Fragen herauszufinden, was geschehen war. Antworten bekam ich keine, stattdessen beschleunigte er die Geschwindigkeit und fuhr raus aus der Stadt. Als er in einen Waldweg fuhr, bekam ich Panik. Vielleicht wirst du dir jetzt denken, dass es schwachsinnig war, aber ich habe in seinen Augen an dem Tag Dinge gesehen, Michelle, die mir Angst gemacht haben. Ich habe an dem Tag in den Augen, in die ich mich verliebt hatte, Dinge gesehen, die mich erschaudern lassen haben. Er blieb vor einem Waldhaus stehen und stieg aus, ich folgte ihm. Als wir im Haus waren, hat er mich angebrüllt. Was würde mir nur einfallen mit anderen Jungs Spaß zu haben. Ich habe nicht verstanden, was er meint, weswegen ich ihn darauf angesprochen habe. Er sprach von dem Dreckskerl mit dem ich heute in der Mensa meine Zeit genossen hatte. Darauf fragte ich ihn, ob er mich beobachtete, weil er zu diesem Zeitpunkt eigentlich auf der Arbeit sein sollte. Wir haben uns gegenseitig angebrüllt, bis er meinte: "Zieh dich aus". Ich habe nicht verstanden, was er meinte, weswegen mich mein geliebter Verlobte aufklärte, das was ich den anderen Jungs zeigte, das was ich mit den anderen Jungs tat, könnte ich ihm doch auch zeigen und mit ihm machen. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Mein eigener Verlobter warf mir vor eine billige Hure zu sein. Als ob ich meinen Körper verkaufen würde."

Ich konnte mir gut vorstellen, wie hart es gewesen sein musste diese Worte von dem Menschen, den du abgöttisch liebst, zu hören. Nazile atmete tief durch.
"Du musst nicht weiter erzählen, wenn es dir schwer fällt."
"Ich danke dir für dein Verständnis, Michelle, aber ich habe die Geschehnisse noch niemandem so ausführlich erzählt und ich will es endlich tun, um diese Last loszuwerden. Es ist gleich vorbei." Ich nickte nur verständnisvoll.
"Als ich ihm sagte, dass er nicht rumspinnen soll und sich keine Märchen ausmalen soll, ist er augerastet. Er hat mich gegen die Wand gedrückt und seine Hand an meinen Hals gelegt. Dann holte er seinen Butterfly raus -er vertrat die Meinung, dass man das in Berlin brauchen würde, zur Selbstwehr. Mit seinem Butterfly und den Worten 'wenn du mir deinen Körper verwehrst, dann wird niemand mehr deine Schönheit betrachten dürfen', verpasste er mir meine Narbe.
Während all das geschah, tat ich nichts anderes als in seine Augen zu blicken. Ich suchte die Liebe, die Zuneigung, die Geborgenheit, die Leidenschaft in seinen Augen, doch da war einfach nichts von dem mehr. Da waren nur noch dunkle Schatten. Hätte ich irgendeinen Hoffnungsschimmer in seinen Augen gesehen, hätte ich daran festgehalten. Und ich schwöre dir, Michelle, ich hätte gekämpft, ich hätte für ihn und unsere Liebe gekämpft, hätte ihm sogar seine Tat verziehen, doch ich sah in diesen Augen nichts. Da war nur eine große Leere und dunkle Schatten, die mir Angst gemacht haben. Er hat mich dann losgelassen und ist gegangen. Ich war am Bluten, nebenbei fiel mir das Atmen mehr als nur schwer. Es wurde förmlich zur Last, weil er zugedrückt hatte. Jedes mal wenn ich versuchte zu atmen, haben meine Lungen förmlich gebrannt. Bevor ich meine Augen schloss, sah ich nur eine große Blutlache. Es ist vorbei, mein ganzes Leben ist vorbei, waren die einzigen Gedanken, die ich hatte. Doch mein letzter Gedanke waren die dunklen Schatten in seinen Augen. Während ich starb, dachte ich an ihn. Beziehungsweise daran, dass er aufgehört hatte mich zu lieben. Das Feuer an meiner linken Gesichtshälfte und den Druck an meinem Hals nahm ich gar nicht wahr. Denn der Schmerz in meinem Herzen war viel zu groß. So sehr habe ich ihn geliebt..." Sie wischte sich ihre Tränen weg. "Das war's, mehr gibt es über mich nicht zu wissen", sagte sie mit einem gebrochenen Lächeln. Ich nahm sie in meinen Arm, und strich ihr beruhigend über den Rücken.
"Ich kenne das Gefühl. Ich weiß genau, wie es sich anfühlt von der Person, die man liebt im Stich gelassen zu werden. Wenn man einfach fallen gelassen wird. Mit dem Schmerz alleine klar kommen muss, das ist schmerzvoll. Doch das allerschlimmste ist es, dass man sich in einem Menschen getäuscht hat. Das man etwas gesehen hat, was gar nicht existiert hat. Das man geglaubt hat, diese Person würde einem niemals wehtun. Zu sehen, dass dieser Mensch gar nicht der Mensch in deiner Vorstellung ist, das tut weh. Wenn man merkt, dass man sich selbst angelogen hat. Die Beziehung gar nicht so perfekt war. Wenn der Mensch vor dir, das komplette Gegenteil von dem Menschen in deiner Erinnerung ist... Das tut so verdammt weh." Sie blickte mich voller Trauer an. "Hast du auch sowas durchgemacht?"
"Ich wurde betrogen. Doch das war gar nicht das Schlimmste, er hat mir etwas angetan, was viel schlimmer ist."
"Hat dieses etwas mit eurem Umzug zu tun gehabt?" Ich brachte ein müdes Lächeln zustande. "Du hast eine gute Menschenkenntnis."
"Willst du mir erzählen, wieso ihr damals umgezogen seid?"
"Es war eigentlich nicht wegen ihm. Also es ist kompliziert, doch ich bin Schuld an allem." Ich sah wie sie mit sich rang, sie wollte mich nach dem Grund fragen, doch war sich dem nicht wirklich sicher.
"Darf ich fragen, was war?"
"Ich habe einen Fehler begangen, in dem ich Rafael, meinem Ex, vertraut habe. Einen Fehler, den ich nicht hätte begehen dürfen. Ich habe das Leben meiner Familie ruiniert, vor allem das meines Vaters. Immer noch traue ich mich nicht in sein Gesicht zu schauen, geschweige denn in seine Augen. Obwohl ich weiß, dass er mich nie für schuldig gehalten hat, doch ich kann mir meine Tat nicht verzeihen. Mein Vater und ich hatten ein ausgezeichnetes Verhältnis, welches ich eigenhändig zerstört habe..." "Aber wenn du schon sagst, dass er es dir nie übel genommen hat, wieso beschuldigst du dich dann so sehr, Michelle?"
"Weil es meine Schuld ist, hätte ich Rafael nicht vertraut, dann wäre heute alles anders. Dann könnte ich heute einem Vater in die Augen blicken."
Mehr konnte ich ihr nicht erzählen, ich war nicht im Stande dazu. Nicht weil ich ihr nicht vertraute, sondern weil ich selber noch nicht damit klar kam. Sie verstand vermutlich, dass ich ihr nicht mehr verraten wollte, weswegen sie schwieg. Ich würde es ihr erzähle, doch nicht jetzt. Noch nicht. "Ich werde es dir erzählen, aber nicht jetzt, Nazile. Noch nicht. Abgesehen davon haben wir uns heute genug über die Vergangenheit unterhalten. Widmen wir uns doch einfach wieder der Biologie." Wir brachen nach meinem letzten Satz in schallendes Gelächter aus.
"Du klangst wie Herr Özcan." Unser Gelächter wurde nur noch lauter, wir lachten so lange, bis uns Tränen aus den Augen kamen. Gelächter und Tränen mit denen wir versuchten unsere Vergangenheit zu vergessen.

Jetzt ist Naziles 'Geheimnis' gelüftet, aber jetzt wollt ihr wissen, was in Michelles Vergangenheit passiert ist, nicht wahr? Da müsst ihr euch noch eine ganze Weile gedulden -ich weiß; ich bin fies.
Das nächste Kapitel wird wieder ein typisches Michelle-Milad Gezoffe, freut euch drauf. Schließlich hatten wir jetzt genug Drama, zumindest für ne Weile.
Wie immer hoffe ich, dass ihr viel Spaß beim Lesen hattet meine lieben Zuckermenschen! ❤

Eure Verâ ♡

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