18. Kapitel

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Er.
Michelle hatte sich mit geschlossenen Augen an die Wand gelehnt, sie verwehrte mir den Blick in ihre Augen. Doch wollte ich überhaupt in ihre Augen schauen? Wollte ich die eisige Kälte in ihnen sehen?
Als sie ihre Augen öffnete, taumelte sie etwas, weswegen ich sie an ihren Oberarmen festhielt.
"Ist alles okay bei dir?"
"Ja, war nur zu viel des Guten."
"Zu viel des Guten?"
"Alkohol." Alkohol? Trank sie denn so selten? Ich wollte sie danach fragen, doch wusste, sie würde mir keine Antwort geben, das war sie mir schließlich auch nicht schuldig.

"Du kannst mich loslassen", weckte ihre liebliche Stimme mich aus meinem Gedankengang. Ich ließ meine Hände fallen, während Michelle sich die Wand hinab gleiten ließ und darauf ihren Kopf auf ihren Knien ablegte.
"Geht's dir sehr schlecht?" Ob man die Sorge aus meiner Stimme raushören konnte, wusste ich nicht. Um ehrlich zu sein, war es mir gerade auch ziemlich egal.
"Es dreht sich alles."
"Wie seid ihr hergekommen?"
"Mit dem Auto."
"Bist du gefahren?" Sie nickte nur ganz leicht. "Wie wollt ihr zurückfahren?"
"Nazile wird fahren."

"Milad?" Mittlerweile saß ich auch auf dem Boden.
"Ja?"
"Da drinnen-", sie deutete auf die geschlossene Zimmertür, hinter der Eymen und Nazile waren, "-was läuft da?"
Wieso ich meine Tat genau jetzt bereute, war mir unbewusst, aber Michelles Blick setzte mir zu. Sie sah mich so unschuldig und irgendwie ängstlich an. Man konnte ihre Sorge aus ihren Augen lesen. Auch wenn das mir zusetzte, freute es mich, denn endlich konnte ich auch Gefühle oder zumindest Regungen dieser in ihren Augen wahrnehmen.
"Nichts. Eymen wird das nicht zulassen." Sie sah mich nur mit einem undefinierbaren Blick an und schüttelte ihren Kopf. Wie schaffte sie es von der einen Sekunde auf die andere ihre Gefühle zu verbergen? Ob Çağdaş wirklich jede Gefühlsregung in ihren Augen sehen und deuten konnte?
"Glaubst du mir etwa nicht?"
"Sollte ich das denn tun? Ich werde einfach nicht schlau aus dir."
"Was meinst du?"
"Du organisierst diese Party nur wegen diesem bescheuerten Trinkspiel, weil du denkst, dass Nazile ein billiges Mädchen sei. Du willst Eymen die Augen öffnen. Dabei weißt du ganz genau, dass er Nazile niemals anfassen würde, nicht wenn er sie so anschaut. Aber trotzdem sind wir hier- ich verstehe dich einfach nicht!" Überrascht blickte ich zu ihr. Woher wusste sie, wie ich über die Neue dachte? "Schau nicht so verdattert, ich habe doch recht."
"Woher weißt du das? Also wie ich über Nazile denke?"
"Die Fragen, die beim Trinkspiel gestellt wurden, haben dich verraten. Du wusstest genau, dass Eymen nicht wollte, dass Nazile es erfährt, dass er schon mit anderen Mädchen geschlafen hat. Zumindest es nicht auf diese Art und Weise erfährt. " Ich war baff.
Kannte dieses Mädchen uns wirkich so gut? Wieso kannte ich sie nicht so gut? Wieso wusste ich so wenig über sie?
Eine altbekannte Wut durchfloss mich. Nur ein einziges Mal hatte ich diese Wut verspürt. Als ich erfahren hatte, dass das Mädchen, der ich die Welt zu Füßen gelegt hatte, nun mit einem anderen eine Beziehung führte. Mit jemandem, der mehr Geld hatte, mehr Ruhm. Ich war wütend auf mich selbst gewesen. Wütend weil ich mich so von ihr geblendet lassen hatte. Im Endeffekt hatte ich es ja gar nicht anders verdient, so viel wie ich für sie getan hatte. Menschen waren undankbare Wesen, man durfte ihnen nicht bedingungslos Dinge geben oder Gefühle schenken.
Diesmal verspürte ich die Wut, weil ich so wenig über die blauäugige Schönheit vor mir wusste, während sie jeden einzelnen Gedankengang von mir zu deuten wusste.
"Er hat nur mit zwei Mädchen geschlafen, du brauchst dir also keine Sorgen um deine Freundin zu machen." Sie schüttelte nur ihren Kopf.
"Du hast es doch auch schon mal getrieben, also was spielst du dich so auf?"
"Ich erinnere mich nicht daran, dass ich meinen Becher bei dieser Frage gehoben habe."
"Es ändert aber nichts daran, dass du es schon getan hast."
"Du spinnst doch!"
"Willst du mir wirklich weismachen, dass du dich nicht unter deinen Freund oder Ex-Freund oder sonst was gelegt hast?"
"Ja, will ich. Hast du ein Problem damit? Und um genau zu sein, mein Ex." Ich schnaubte nur. "Wieso ist es so schwer für dich das zu glauben? Ach ja stimmt, ich bin ja Deutsche und da ist sowas Gang und Gebe, stimmt's? Das du ein riesengroßes beschissenes Arschloch bist, wusste ich ja schon immer, aber dass du jetzt auch noch zum Rassisten mutierst, ist echt das aller letzte!" Ach ja stimmt, ich bin ja Deutsche und da ist sowas Gang und Gebe, stimmt's, ihre Stimme triefte nur voller Sarkasmus, als sie diesen Satz aussprach. Und am liebsten hätte ich mich verflucht, weil ich ihr keinen Glauben geschenkt hatte. Die Wut mir selbst gegenüber wuchs nun ins Unermessliche.
Sie versuchte aufzustehen, doch als sie stand, torkelte sie so stark, dass sie beinahe hingefallen wäre, wenn ich sie nicht gehalten hätte.
"Lass mich!", fauchte sie.
"Dir geht es nicht gut."
"Weil du in meiner Nähe bist."
"Wie meinst du das?"
"Ich hasse es von dir umgeben zu sein, Milad. Wenn ich wüsste, dass ich meine Eltern dazu überreden könnte, die Schule zu wechseln, würde ich keine Sekunde länger warten." Ich hatte zwar noch nie einen Schlag gegen die Magengrube kassiert, aber das hier fühlte sich so an. Wenn nicht sogar noch schlimmer. Ich ließ sie los. Sie taumelte kurz, doch kriegte sich schnell wieder ein. Ohne mich umzudrehen ging ich.

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