Kapitel 8 - Teil 1

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-------„Opa, schau mal!", schreie ich aufgeregt. Angestrengt halte ich meinen Kopf über Wasser und sehe meinen Großvater an. Ein breites Lächeln, das sein ganzes Gesicht aufhellt und ihn jung aussehen lässt, liegt auf seinen Lippen. „Du machst das super, Lili", ruft er zurück und hält einen Daumen in die Luft. Das Wasser ist dunkel, die Sonne ist schon untergegangen, doch ich habe keine Angst, denn mein Großvater steht am Ufer und beobachtet mich. Immer weiter schwimme ich in die Mitte des Sees, denn ich habe mir vorgenommen, bis auf die andere Seite zu schwimmen. Als ich das nächste Mal zurückschaue, ist mein Großvater ganz weit weg. Schwer atmend blicke ich wieder nach vorn. Aber das Ufer, das ich anstrebe, scheint noch weiter entfernt zu sein. Angst erfasst mich. Mein Körper zittert schon, wegen der Kälte und meiner Kraftlosigkeit. „Ich schaffe das nicht", kreische ich plötzlich panisch und strample wild mit meinen Armen. Das Wasser scheint mich immer stärker nach unten ziehen zu wollen und ich halte mich nur mit Mühe an der Oberfläche. „Doch, Lili, du schaffst das! Wenn du müde bist, strecke deinen ganzen Körper aus und versuche auf dem Wasser zu liegen", schreit er zurück und ich höre, dass seine Stimme etwas zittert. „So wie wir es geübt haben", fügt er hinzu. „Atme tief durch und tu so als wärst du zu Hause in deinem Bett." Ich versuche seinen Anweisungen zu folgen. Immer noch geht mein Atem wie wild, doch ich konzentriere mich und bringe mich mit meiner letzten Kraft in eine horizontale Position. „Genau so!", schreit mein Großvater begeistert und eine Welle der Zuversicht überkommt mich. Mein Körper ist schwach, aber nur auf dem Wasser zu liegen erfordert keine große Anstrengung. „Jetzt bleib so und sobald du kannst, schwimmst du wieder zu mir zurück." Ich folge seinen Anweisungen und verharre in dieser Position, bis ich glaube, es zurückzuschaffen. Mit zusammengebissenen Zähnen führe ich die Bewegungen, die mir mein Großvater beigebracht hat, aus und komme dem Ufer immer näher. Mein Großvater applaudiert und lobt mich. Sobald ich bei ihm angekommen bin, atme ich wieder schwer. „Warum hast du mich nicht geholt?", frage ich vorwurfsvoll. „Ich wusste, dass du es schaffen kannst, sonst wäre ich gekommen", antwortet er und klopft mir mit vor Stolz aufgeblähter Brust auf die Schulter. „Wenn du nur willst, kannst du alles schaffen."--------Dann, ich weiß nicht einmal, ob ich in diesem Moment wirklich bei Sinnen bin, bewegt sich mein Körper wie von alleine. So als wäre ich nur im kleinen See im Wald und mein Großvater würde am Ufer auf mich warten. Ich drücke mich mit aller Kraft dorthin, wo ich die Oberfläche vermute. Meine Lungen schmerzen mit jedem Herzschlag, der vergeht. Plötzlich stoße ich mit meinem Kopf gegen etwas Hartes. Ich glaube schon unter dem Schiff gefangen zu sein, doch als ich mich dagegenstemme, gibt es nach und fällt zur Seite. Als sich mein Kopf endlich an der Oberfläche befindet, spucke ich salziges Wasser. Meine Augen brennen unerlässlich, sodass ich sie nur mit Mühe offen behalten kann. Es kostet mich alle Kraft, nach jeder Welle, die mich erfasst und nach unten drücken will, wieder an die Luft zu kommen. Immer wieder wird Wasser in meinen Mund gespült und ich würge von dem salzigen Geschmack. Plötzlich stößt wieder etwas gegen mich und ich fahre erschrocken herum. Ein Fass, das wahrscheinlich vom Schiff gefallen ist, wird von den Wellen gegen mich geschlagen. So schnell ich kann, greife ich danach und versuche mich irgendwie daran festzuhalten. Ich klammere mich an das Holz, so als wäre es meine einzige Rettung und mit größter Wahrscheinlichkeit ist es das auch. Immer wieder schlagen Wellen so fest auf mich ein, dass ich vom Holzfass rutsche und es fast verliere. Ewigkeiten geht es so weiter und ich weiß, irgendwann würde der Moment kommen, in dem ich keine Kraft mehr habe und das Meer mich mitreißen wird. Mit zusammen gepressten Zähnen versuche ich diesen Augenblick jedoch noch eine Weile hinauszuzögern. Die Schwärze, die mich umgibt, scheint endlos. Egal in welche Richtung ich blicke, es gibt nichts. Nicht einmal das Schiff, von dem ich gefallen bin, kann ich sehen. Irgendwann lässt der Schauer nach und wird zu einem leichten Tropfen. Auch der Wind reißt nicht mehr so stark an mir, doch der Ozean ist immer noch unruhig. Andauernd wird mir das eiskalte Wasser gegen mein Gesicht gepeitscht. Meine Beine lasse ich leblos im Wasser herunterhängen und umklammere das rutschige Fass. Mein Herz schlägt immer noch wild gegen meine Brust. Mein Körper wird abwechselnd von Schmerz und Panik heimgesucht. Mein Geist scheint im Meer untergegangen zu sein, denn kein Gedanke geht mir durch den Kopf. Ich werde nur von meiner Todesangst immer weiter getrieben. Mit zusammengebissenen Zähnen klammere ich mich fester an das Holz. Das Einzige, was ich in diesem Moment weiß, ist, dass ich nicht nachgeben werde.Zuerst ist alles taub. So als würde ich irgendwo im Nichts schweben – als wäre ich tot. Doch irgendwann kommt die Realität einen Schritt auf mich zu. Langsam kehrt wieder Gefühl in meinem Körper zurück. Anfangs spüre ich nur das Brennen in meinem Hals, dann fühlt es sich plötzlich so an, als würde mein ganzer Körper in Flammen stehen. Hitze, so unnachgiebig wie ich es noch nie erlebt habe, lodert in mir. Irgendwann bricht auch die Erinnerung wieder auf mich herein. Der Sturm. Mein Sturz ins eiskalte Wasser. Der Überlebenskampf im endlosen Ozean. In diesem Moment kehren auch meine Sinne zu mir zurück. Plötzlich fühle ich das Wasser um mich herum. Als würde es mich aus dem Schlaf wecken wollen, stößt es sanft gegen mich. Ich reiße meine Augen auf, muss sie aber sofort wieder schließen, denn die Sonne ist so gleißend hell, dass ich fast erblinde. Blinzelnd versuche ich mich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Mein Kopf dröhnt. Ich stöhne unter der Anstrengung, mich aufzurichten. Sofort huste und spucke ich Wasser, der salzige Geschmack jedoch bleibt in meiner Kehle zurück. Ich sitze im Meer, unter mir weicher Sand, der bei jeder kleinen Bewegung auf stäubt und das Wasser um mich herum braun färbt. Hinter mir erstreckt sie sich an der Küste entlang ein Sandstrand. Er reicht so weit, dass ich sein Ende nicht erkennen kann. Dahinter ragen Bäume weit in den Himmel, ihre Blätter bilden eine dichte Decke und ein paar wenige Stämme durchbrechen sie und überragen den gesamten Dschungel. Der Wald leuchtet so satt grün, dass ich kurz glaube, ich bilde mir das alles nur ein. Um die Baumstämme herum wachsen nochmal dünne Äste und weitere Pflanzen, als wären sie eine Verzierung. Ich schaffe es nicht aufzustehen, weshalb ich mich mit meinen Armen durch das seichte Wasser in Richtung der Küste schiebe. Jede Bewegung tut höllisch weh. Mein Hals schreit nach Wasser, doch ich begehe nicht den Fehler, vom Meer zu trinken.Sobald ich den trockenen Sand mit meinen Fingern berühre, kreische ich erschrocken auf und zucke zurück. Es ist, als hätte ich in Feuer gefasst. Sofort tauche ich meine Finger in das kühle Wasser. Für einen Moment bleibe ich einfach liegen, doch dann erinnert mich meine brennende Kehle an meinen Durst und ich wage es nicht länger hier zu bleiben. Bei dieser Hitze würde ich bald verdursten, wenn ich nicht irgendwo trinkbares Wasser finde. Mit meiner gesamten Kraft stemme ich mich hoch. Ich beiße meine Zähne zusammen, um unter der Anstrengung nicht laut aufzuschreien. Kurz taumle ich, glaube schon, ich würde wieder hinfallen, doch dann finde ich mein Gleichgewicht und stolpere in Richtung des Dschungels. Meine Kleider sind bleischwer und kleben unangenehm an meinem Körper. Nach nur wenigen Schritten bin ich bereits atemlos. Sobald der kühle Schatten der Blätterdecke mich einhüllt, lasse ich mich wieder auf den Boden fallen. Schwer atmend lehne ich mich gegen einen dicken Baumstamm. Von ihm gehen so viele Wurzeln aus, dass ich mein ganzes Leben zählen könnte und immer noch nicht jede gesehen hätte. Um ihn herum wachsen weitere kleine Äste und Wurzeln, die wie Ranken um den Stamm herum bis nach oben verlaufen. Der Boden unter mir ist weich und von vielen sattgrünen Pflanzen überzogen. Obwohl die Sonne erbarmungslos auf die Landschaft herunter scheint, ist es so grün, wie ich es noch nie erlebt habe. Selbst die Luft scheint irgendwie lebendig zu sein. Ich nehme ein paar tiefe Atemzüge und lege meinen Kopf nach hinten. Am liebsten würde ich meine Augen schließen und mich ausruhen, aber ich weiß, dass das ein Fehler wäre. Auf die dichte Blätterdecke über mir starrend, denke ich darüber nach, was ich nun tun soll. Dass mich die Obritari verfolgen werden, glaube ich nicht. Woher sollen sie wissen, wo ich bin, wenn ich es selbst nicht einmal weiß? Das Wichtigste ist in diesem Moment: Wasser. Entweder muss ich auf einen Fluss stoßen oder andere Menschen treffen. Sonst werde ich sterben. „Hallo? Kann mich jemand hören?", rufe ich in der Hoffnung, jemand könnte sich in meiner Nähe befinden und auf mich aufmerksam werden. Angespannt warte ich. Doch bis auf das laute Zirpen, das aus dem Dschungel kommt, kann ich nichts hören. Ich versuche es noch einmal. Keine Antwort. Dann versuche ich es wieder und wieder, solange bis meine Kehle brennt und nur noch unverständliche Laute daraus hervordringen. Verzweifelt lehne ich meinen Kopf wieder zurück und schließe für einen Herzschlag lang meine Augen. Angst und Verzweiflung kriechen meine Kehle hoch. Was tue ich, wenn ich niemanden finde? Oder wenn ich auf Clanmitglieder stoße? Ich erlaube mir einen kurzen Moment der Ruhe und versuche dabei, meine Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen. Wenn ich mich jetzt in meiner Panik verliere, dann werde ich es nie schaffen, nach Hause zu kommen.Allein der Gedanke, meine Augen wieder zu öffnen, strengt mich unheimlich an. Doch ich tue es trotzdem. Je länger ich hier bleibe, desto durstig werde ich. Auch wenn ich jetzt schon schwach bin, weiß ich, dass ich in wenigen Stunden noch kraftloser sein werde. Die Sonne steht gerade im Zenit, jetzt ist die beste Zeit aufzubrechen und mich auf den Weg zu machen. Denn bei Nacht würde ich mich nur verlaufen und mir ist schmerzlich bewusst, dass ich diese Nacht auch nicht überleben werde, wenn ich kein Wasser finde. Nachdem ich überlegt habe, ob es wohl besser ist, in den Wald zu gehen oder ich an der Küste entlangwandern sollte, stehe ich auf. Ich habe mich für letzteres entschieden, da ich Angst habe, im Wald könnte ich mich verlaufen. Außerdem liegen viele Dörfer in der Nähe der Küste, weshalb ich hoffe, schnell auf eines davon zu stoßen oder zumindest einen Bach zu finden, damit ich meinen Durst endlich stillen kann. Ich komme nur langsam voran; meine Beine sind bleischwer und mein verletzter Körper pocht unaufhörlich. Der Rand des Waldes ist so dicht bewachsen, dass ich ständig auf dem Strand unter der gleißenden Sonne gehen muss. Bei jedem Schritt versinke ich im Sand und jedes Mal, wenn ich meinen Fuß hebe, ist es etwas anstrengender als zuvor. Das Meer ist so flach und ruhig, dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, wie es letzte Nacht zu diesem wütenden Ungeheuer werden konnte. Die Luft ist so feucht und heiß, dass sich jeder Atemzug schmerzhaft anfühlt. Mein Kleid ist zwar fast getrocknet, aber klebt immer noch unangenehm auf meiner Haut. Im Wald raschelt es immer wieder und ich sehe jedes Mal hoffnungsvoll um, doch ich kann weit und breit keine Menschenseele sehen. Wahrscheinlich schrecke ich einfach nur Tiere auf. Hinter jeder Ecke erwarte ich auf eine kleine Stadt oder zumindest ein Haus zu treffen, doch mich umgibt nichts als das Meer und ein endloser Dschungel. Irgendwann bin ich so ausgelaugt, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten kann. Am Waldrand lasse ich mich auf den Boden nieder und ruhe mich etwas aus. Die Sonne färbt den Himmel bereits hellorange. Bisher bin ich auf nichts Menschliches gestoßen; weder ein Boot habe ich gesehen noch Häuser. Nicht einmal Felder, Werkzeuge oder irgendetwas, das auf Leben hindeutet. Bei jedem Schritt, den ich heute gemacht habe, hat sich mein Magen mehr verkrampft. Ich raufe mir meine mittlerweile offenen, von Knoten durchwanderten, Haare. Ein verzweifelter und etwas wütender Schrei entreißt sich meiner Kehle. Frustration, zuerst noch ein kleiner Stein in meinem Magen, mittlerweile ein Fels, der schwer auf meinen Schultern liegt, ist alles, was ich noch fühle. Jetzt, wo ich es endlich geschafft habe, meinen Entführern zu entkommen, bin ich zwar frei, aber vollkommen verloren und vielleicht bald schon tot. Und obwohl ich am Verdursten bin, laufen plötzlich heiße Tränen über meine Wangen. Die Verzweiflung verstärkt ihren Griff um mich, so als wolle sie jede Luft aus meinem Körper drücken. Ich weiß nicht, wie lange ich dasitze und weine. Ich bemerke nicht einmal, wie die Farben am Himmel immer satter werden und die bevorstehende Nacht ankündigen. Es ist, als wäre ich in meinen Gefühlen gefangen. Ich kann nichts tun, als mich ihnen hinzugeben.

Das letzte Juwel - die Chroniken von KryniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt