Sofort stürze ich rückwärts zu meinen Geschwistern. „Zieht euch an", ist das einzige, was ich sage, während ich um die Ecke biege. Ich habe in ihren Gesichtern gesehen, dass sie mich gehört haben. Es braucht keine Erklärungen, selbst die kleine Beyza versteht, was gleich passieren wird. Mit zitternden Händen öffne ich das Tor des Geheges. Ich höre nichts, bis auf das Rauschen meines Blutes in meinen Ohren. Hastig binde ich ein Seil um Giselas Hals und nehme etwas Stroh in die Hand, während Mina mich dabei betrachtet verwirrt. Die Ziegen sind einen bestimmten Alltag gewohnt und verstehen sofort, dass das gerade nicht Normalität ist. So schnell ich kann, verschließe ich das Tor und renne an meinen Geschwistern vorbei zurück ins Haus. Gisela ist zwar verwirrt, doch folgt mir, ohne sich zu wehren. Die Falltür in der Küche zu unserer Lagerkammer ist geöffnet, um die Öffnung herum sind verschiedene Lederbeutel verteilt. Meine Großmutter hat sich nicht die Mühe gemacht, eine Kerze zu entzünden, denn die Zeit drängt. „Ich brauche Nacron", rufe ich mit bebender Stimme in die Dunkelheit. Unruhig verlagere ich mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Gisela hinter mir bleibt ganz still. Mit jedem Herzschlag, der vergeht, flammt mehr Angst in mir auf. Wie lange dauert es, dieses verdammte Öl zu finden? Als eine Hand aus der Dunkelheit schießt und eine kleine Glasflasche vor mir hinstellt, verstummt jeder Gedanke in meinem Kopf. Augenblicklich greife ich danach und zerre Gisela in das Schlafzimmer meines Vaters. Er hat die Kommode bereits zur Seite geschoben, hinter welcher sich eine unsaubere Öffnung im Holz befindet. Während er Lederbeutel, Tonschalen und sonstige Habgüter in dem Loch verstaut, werfe ich mich auf die Knie und krabble mit der Ziege in die dunkle Kammer. „Komm Kleine", ich versuche die beruhigende Tonlage meiner Schwester nachzuahmen, wenn sie mit Beyza spricht. „Gleich schläfst du tief und fest." Ich beträufle das Stroh mit etwas von dem Narconöl. Mit einer Hand streichle ich über ihren Kopf, während ich ihr mit der anderen Hand das Stroh unter die Nase halte. Die Ziege schnaubt einmal laut auf und drückt dann ihre Schnauze in die Mulde meiner Hand. Ihre feuchte Zunge kitzelt auf meiner Haut. Es fühlt sich an, als würde eine Ewigkeit vergehen, während ich darauf warte, dass sie das gesamte Stroh auffrisst. Unruhig streichle ich über ihr festes Fell und beobachte die Ziege. Allmählich entspannt sich ihr Körper. Dann taumelt sie, ihre Lider flattern und sie lässt sich auf ihren Hintern fallen. „Schlaf gut", flüstere ich ihr noch zu und mache mich dann schnell davon. Diese Menge an Narconöl würde Gisela die ganze Nacht ruhig schlafen lassen. Nachdem mein Vater einen Teil unserer Besitztümer mit der Ziege im Loch versteckt hat, helfe ich ihm, die Kommode wieder davor zuschieben. Für einen kurzen Moment lausche ich, versuche Giselas Atem zu hören, aber ich kann nichts vernehmen. Gut so, dann würden die Skauk sie auch nicht finden. Hoffe ich zumindest, wenn doch, dann würden wir alle wegen Hochverrat verurteilt werden und schneller als wir Skauk sagen können in einem der Arbeitslager landen. Ich atme erleichtert aus, als ich sehe, dass auch meine Großmutter den Keller wieder verschlossen hat; nun ist alles getan. Ich werfe noch einen schnellen Blick in die Mühle, das zweistöckige Gebäude ist durch eine Tür in der Küche mit dem Haus verbunden. Auch hier sieht alles aus wie immer, nur ein paar Säcke Getreide und Mehl weniger. Mein Kopf ist völlig leer, ich kann an nichts anderes denken als das, was gleich passieren wird.
Die Nacht ist dunkel, der Mond ist irgendwo versteckt hinter den Wolken. Aneinandergedrängt stehen wir einige Schritte vor unserem Haus. Vor uns steht mein Vater, eine Öllampe in der Hand, gleich daneben meine Großmutter. Bezya klammert sich an Gayas Bein, Juriso steht aufrecht neben ihr. Er versucht keine Angst zu zeigen, aber genau an diesem Verhalten erkenne ich, dass er innerlich bebt, denn mir geht es gleich. Egal, wie schnell mein Herz klopft, wie sehr meine Finger zittern, die Skauk sollen es nicht bemerken. Zum einen will ich ihnen nicht die Genugtuung geben, unsere Unterlegenheit, über die sie sich natürlich bewusst sind, auch noch zu sehen. Viel wichtiger ist aber, dass sie nicht glauben, wir würden etwas vor ihnen verstecken. Wenn wir irgendwie verdächtig wirken, würden sie das gesamte Haus auseinandernehmen, bis sie irgendeinen Grund haben, uns in ein Arbeitslager zu stecken. Die Reiter sind mittlerweile so nah, dass ich nicht nur die Staubwolke erkenne, welche wie ein düsteres Gewitter auf uns zurast, sondern auch die breiten Gestalten auf den Rücken der Pferde. Obwohl ich die Männer nicht sehen kann, weiß ich genau, wer uns einen Besuch abstattet. Bis auf Mitglieder des Skauk Clans verirren sich nur wenige in den Norden. Und sie kommen auch nur, um die Abgaben einzutreiben. Abgaben, die so hoch sind, weil sie vor Jahrzehnten gegen den König rebelliert haben und die wir nun zahlen müssen, obwohl wir nichts mit den Machtkämpfen der Clans zu tun hatten. Die Mitglieder des Skauk Clans haben die Kraft des Steins. Ich habe noch nie gesehen, wie einer von ihnen seine Kräfte angewendet hat, aber Geschichten darüber gehört, wie mächtig sie sind. Manche von ihnen können ihre Haut in Stein verwandeln, sodass nicht einmal die schärfste Klinge sie verletzen könnte. Andere können Metall nach Belieben formen, als wäre es nicht mehr als Sand. Laut den Erzählungen können sie die Erde so stark beben lassen, dass jede Stadt einfach zusammenfallen würde, oder Berge erschaffen, die so hoch sind wie die in Grakok.
DU LIEST GERADE
Das letzte Juwel - die Chroniken von Krynia
Fantasía„Ich werde der erste König, der ganz Krynia vereint", erklärt er mit vor Stolz angeschwollener Brust. Dann senkt er seinen Blick und sieht mich direkt an, so als wäre ich ein Schatz, den er keinesfalls verlieren will. ‚Wir werden noch eine Menge Spa...