Kapitel 10 - Teil 1

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‚Du solltest nicht hier sein.' Ich schrecke hoch und sehe mich verwirrt um. War das ein Traum? Anscheinend bin ich doch irgendwann eingeschlafen, denn mittlerweile ist es wieder hell und ein feuchter morgendlicher Dunst liegt in der Luft. Am Ufer des Weihers versuche ich mir den Schlaf aus dem Gesicht zu waschen, als ich die Stimme wieder höre. ‚Was machst du hier?' Es klingt wie das bedrohliche Zischen einer aufgeschreckten Schlange. Mein Herz macht einen Satz und ich fahre erschrocken herum, doch ich kann niemanden sehen. Verwirrt drehe ich mich im Kreis und suche zwischen den Bäumen nach dem Ursprung der Stimme. Alles scheint so wie immer, aber ich bin mir sicher, dass ich jemanden gehört habe – oder habe ich es mir nur eingebildet? Lässt mich der Hunger langsam verrückt werden? „Hallo?", mein leiser Ruf klingt mehr nach dem Krächzen eines Vogels. Mein Herz hämmert mittlerweile wild gegen meine Rippen. Keine Antwort. Ich will mich bereits abwenden, als die Stimme wieder ertönt. ‚An deiner Stelle würde ich jetzt wegrennen', ein belustigter Ton liegt in ihr. Panik durchflutet meinen Körper. Hektisch sehe ich mich um, aber ich kann die Richtung der Stimme nicht ausmachen; es ist, als wäre sie überall. Für einen Moment bin ich wie angewurzelt, dann, ohne dass ich lange darüber nachdenke, renne ich los. Ich achte nicht darauf, wohin ich laufe, ich will einfach nur weg von hier. Als es plötzlich hinter mir laut raschelt – ich kann hören, wie Äste geräuschvoll knicken – laufe ich noch schneller. Falls das überhaupt möglich ist. Mein Blut rauscht mir in den Ohren, während ich mich so schnell wie ich kann durch den Dschungel kämpfe. ‚Du bist nicht schnell genug'. Ein kaltes, schneidendes Lachen ertönt. Die Stimme dröhnt laut in meinen Ohren, so als stände die Person gleich neben mir – als befände sie sich in meinem Kopf. Ich kann hören, dass mich jemand verfolgt und dass dieser jemand immer näher kommt. Doch ich wage es nicht zurückzublicken, sondern laufe immer weiter. Plötzlich prallt etwas gegen mich. Ich werde zur Seite geworfen und schlage hart auf den Boden auf. Die Welt scheint für einen Moment stillzustehen. ‚Zu langsam', kichert die Stimme in meinem Kopf. Dann stürzt sich jemand auf mich. Ich versuche mich unter dem Körper hervor zu kämpfen, doch er ist zu schwer und ich zu schwach. Schwarze Flecken tanzen in meinem Blickfeld. Kreischend schlage ich um mich. Mein Angreifer fasst mich an meinen Handgelenken und drückt sie zu Boden. Ich schreie und versuche mich mit aller Kraft zu wehren, als plötzlich etwas Seltsames geschieht. Ich höre, wie es um uns herum raschelt, dann ertönt ein lautes Knarzen, so als würde Holz zerbersten. Von rechts schießt etwas auf mich zu, das wie ein Ast aussieht, aber sich bewegt wie eine Schlange. Es passiert so schnell, dass ich nicht sehe, was geschieht. Mein Angreifer wird zur Seite geschleudert. Ein Schrei ertönt. Mit einem dumpfen Knall prallt er gegen einen Baum und sein Körper fällt regungslos zu Boden. Für einen Moment ist es ganz still. Selbst der Dschungel scheint plötzlich verstummt, als warte er gespannt darauf, was als Nächstes passiert. Ich will mich aufrichten, als ich von hinten am Nacken gepackt werde. Es geschieht so schnell, dass ich nicht einmal schreie. Wieder werde ich gegen den Boden gedrückt. Es kommt mir so vor, als würde jeder Knochen in meinem Hals brechen. Dann, von einem auf den anderen Moment, wird alles schwarz.


„Lili, wach auf! Wir haben Besuch." Gaya rüttelt mich wach. Ihre Augen funkeln aufgeregt. „Was?", brumme ich verschlafen. „Wir haben Besuch", wiederholt sie begeistert. „Wir haben nie Besuch", erwidere ich verwirrt und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Langsam setze ich mich auf. „Heute schon. Es ist ein junger Mann und er sieht auch noch gut aus." Sie grinst und ihre braunen Augen leuchten. „Komm schon", drängt sie ein weiteres Mal und greift nach meinem Arm. „Ist ja gut", murre ich nur und stehe auf. Während ich mir hastig mein Kleid überziehe, wartet sie unruhig an der Tür. „Wer ist das eigentlich?", frage ich sie, als wir aus dem Zimmer treten. „Ich weiß es nicht. Großvater hat ihn im Feld entdeckt und ihn zum Frühstücken eingeladen", antwortet sie immer noch so euphorisch wie vorhin. „Großvater?", frage ich verwirrt. „Ja. Du weißt ja, dass er immer vor der Sonne aufsteht." Benommen schüttle ich meinen Kopf und murmle ein zustimmendes ‚Ja'. Ich weiß nicht, was heute los ist. Irgendetwas fühlt sich falsch an, aber wahrscheinlich liegt es nur an meiner Müdigkeit und dem unerwarteten Besuch. Gaya huscht aufgeregt die Treppen hinunter, während ich ihr mit langsamen Schritten folge. „Vielen Dank, das sieht sehr lecker aus", eine weiche, helle Stimme erfüllt die Küche. Als wir den Raum betreten, verstummt das Gespräch und der Fremde, der neben meinem Großvater sitzt und gerade meine Mutter sanft anlächelt, wendet seinen Blick in unsere Richtung. Er hat hellbraunes, wuscheliges Haar, das etwa eine Hand lang ist und wild von seinem Kopf absteht. Seine honiggoldenen Augen leuchten wie die Sonne, während er uns langsam mustert. Er hat ein schmales, jungenhaftes Gesicht und dürfte nur wenige Jahre älter sein als Gaya und ich. „Das sind meine Enkelinnen, Lilian und Gaya", erklärt mein Großvater sofort und schenkt uns ein aufrichtiges Lächeln. „Kommt her, Mädchen", er winkt uns zu sich, „das ist Ridgnard, er reist durch das ganze Königreich und kennt wahrscheinlich noch mehr Geschichten als ich." Das laute Lachen meines Großvaters hallt durch die Küche. „Ihr könnt mich Ridge nennen. Es ist mir eine Freude, euch kennenzulernen." Der Fremde ist aufgestanden und deutet eine leichte Verbeugung an. Ein breites Lächeln liegt auf seinen hellrosa Lippen, das seine verengten Augen allerdings nicht erreicht. Er mustert mich aufmerksam, als ich mich auf einem der Stühle niederlasse. Unter seinem Blick fühle ich mich unwohl, weshalb ich kurzerhand nach einer Scheibe Brot greife. „Lilian", die mahnende Stimme meiner Mutter ertönt hinter mir. „Entschuldigen Sie bitte", richtet sich meine Mutter an Ridge, „meine älteste Tochter hat anscheinend vergessen, wie die Benimmregeln lauten. Bei uns Zuhause darf sich der Gast immer zuerst bedienen." Sie funkelt mich an, als sie ein Glas Marmelade auf den Tisch stellt und sich neben mir niederlässt. „Ridge hat mir gerade erzählt, dass er auf der Suche nach den letzten Mitgliedern des Viriden Clans ist", wirft mein Großvater ein und versucht damit die Stimmung aufzulockern. „Ach was, die hat man, seit sie diesen Wald verflucht haben, nie mehr gesehen", mein Vater kommt in die Küche und lässt sich neben Ridge nieder. „Es ist die Strafe Silvas", fügt er hinzu. Ridge mustert meinen Vater einen Moment. „Davon gehen die meisten aus, das ist wahr", erwidert er und sein Blick schweift wieder zu mir. „Aber es gibt keine Beweise dafür. Niemand weiß mit Sicherheit, was damals wirklich geschehen ist", erklärt er. „Und Ihr sucht diese Beweise? Warum hier in Grakok? Es gibt kaum eine Region, in der sich ein Viride unwohler fühlen muss als hier, wo fast nichts wächst", fragt mein Großvater neugierig wie immer. Das Lächeln auf den Lippen des Fremden wird breiter, so als hätte mein Großvater genau die Frage gestellt, die er hören wollte. „Nun ja, zum Einen liegt Verdian neben Grakok, es wäre damals einfach gewesen, von dort in diese Region zu flüchten. Zum anderen kursieren Gerüchte, dass sich hier in der Gegend Seltsames mit der Natur zuträgt." Während Ridge spricht, lässt er seinen Blick über uns schweifen, so als interessiere ihn unsere Reaktion. Mein Großvater lacht einmal laut auf. „Seltsame Geschehnisse mit der Natur? Davon wissen wir nichts", meint er und reicht Ridge eine Scheibe Brot. „Ihr müsst auch essen. Laut meiner Tochter darf ich nämlich erst anfangen, wenn Ihr Euch bedient habt." Der Fremde nimmt die Scheibe Brot entgegen und hält sie in der Hand, ohne einen Bissen davon zu nehmen. „Schade, ich hätte gehofft, Ihr würdet mehr wissen." Ridge legt seinen Kopf schief und sieht meinen Großvater von der Seite aus an. „Euer Getreidefeld sieht gesund aus, wie schafft ihr es, dass es in dieser Gegend wächst?", will er plötzlich von meinem Großvater wissen. Die offensichtliche Andeutung in seinen Worten hallt in meinem Kopf wieder. „Das verdanken wir unserem Brunnen und dem Wissen unserer Vorfahren", antwortet mein Großvater bescheiden. „Jedenfalls nicht, weil wir dem Viriden Clan angehören", fügt er hinzu und spricht das Offensichtliche aus. Seine vorhin noch entspannten Züge haben sich verhärtet und auch Ridge neben ihm hat sich versteift. Wieder gleitet sein Blick zu mir. „Mir wurde da etwas anderes zugetragen", erwidert er mit einem abfälligen Tonfall, „Meines Wissens nach, besitzt eure älteste Tochter eine Gabe von Silva." Mein Atem stockt, als er die Worte ausspricht. Alle Augen sind plötzlich auf mich gewendet, so als würde meine Familie ihm glauben. Ich springe auf und mein Stuhl wird mit einem Knall zurückgeworfen. „Nein!", schreie ich, „das stimmt nicht!" Ridge sitzt einfach nur da und starrt mich an, so als versuche er zu durchschauen, ob ich ihn täuschen will. Ich sehe zu meinem Großvater, dann zu meinem Vater, meiner Mutter und zum Schluss zu Gaya. Jeden Einzelnen von ihnen blicke ich in die Augen, doch ich sehe nur Vorwürfe, so als wäre alles, was Ridge sagt, wahr. „Nein!", schreie ich ein weiteres Mal, jetzt verzweifelter – als würde ich meine Familie überzeugen können, wenn ich nur laut genug bin. Plötzlich verschwindet Ridge vor meinen Augen – er löst sich einfach in Luft auf. Dann spüre ich jemanden hinter mir. „Lüge", flüstert er mir ins Ohr und ich spüre, wie eine kalte Klinge sich von hinten in meinen Rücken bohrt. Ein panischer Schrei entreißt sich meiner Kehle. Ich schlage wild um mich, doch treffe nichts. Ein Ruck geht durch meinen Körper und ich falle. In einem Herzschlag wird die ganze Welt schwarz und nichts existiert mehr, nur mein nicht enden wollender Schrei hallt in meinem Kopf wieder.


Schreiend erwache ich aus meinem Traum. Mein Herz hämmert unaufhörlich gegen meinen Brustkorb. Der Geschmack von Eisen liegt mir auf der Zunge. Kurz glaube ich, ich würde meine Familie sehen, wenn ich meine Augen öffne. Aber als ich es wirklich tue, erwartet mich etwas anderes.

Das letzte Juwel - die Chroniken von KryniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt