Während wir die endlos langen Bankreihen entlanglaufen, könnten Stunden vergehen, oder auch nur wenige Wimpernschläge. Das einzige Geräusch in dem sonst so bedrohlich stillen Saal sind unsere Schritte, die von den hohen Wänden widerhallen. Es ist wie in einem Tempel, aufgrund der Imposanz des Gebäudes und weil alles bereits ruhig ist, versucht man eigentlich ganz leise zu sein, um die Ruhe nicht zu stören. Caelans festen, stampfenden Schritten nach, scheint er dieses Gefühl allerdings nicht zu besitzen.
Wie ich überhaupt noch einen Schritt machen kann, ist mir ein Rätsel. Die Angst hat ihre kalten Finger um mich geschlossen und hält mich so fest in ihrem Griff, dass ich innerlich gelähmt bin. Es ist, als hätte jemand anderes die Kontrolle über meinen Körper übernommen und ich sehe nur von außen zu, unfähig einzugreifen.
Vor mir sitzt der König von Krynia. Auf seinem goldenen Stuhl blickt er von oben auf mich herab, wie ein Gott, der seine Kreation überwacht. Er hat einen langen, hageren Körper. Seine Haut ist so hell, dass sie vor der schwarzen Wand fast strahlt und sein schmales, ernstes Gesicht wird von Falten gezeichnet.
‚Ob er bereits jetzt meine Gedanken liest?', schießt es mir durch den Kopf und sofort halte ich den Gedanken auf. Das ist der verdammte König, natürlich liest er meine Gedanken jetzt schon. Mit einem zittrigen Atemzug, ziehe ich die Luft in meine Lungen und versuche an nichts zu denken. Doch das stellt sich als schwieriger heraus, als gedacht, weshalb ich mich kurzerhand dazu entschließe einfach in meinen Gedanken alles zu beschreiben, was ich sehe. Woher mir diese Idee plötzlich kommt, weiß ich nicht, aber sie scheint besser zu sein als jede andere, die ich den letzten Mond über hatte.
Hinter der hageren Gestalt des Königs befinden sich übergroße Zeichnungen der Clanwappen auf der Wand. Wie bei einer Uhr sind die runden Wappen in einem Kreis angeordnet. Ganz oben befinden sich die drei violetten Augen Lessuros auf einem weißen Hintergrund. Daneben befindet sich die hellblaue Krake der Acarus auf dunkelblauem Hintergrund; sie haben die Macht des Wassers und des Meeres von Fluidan erhalten. Dann kommt der gelbe Blitz auf hellgrauem Untergrund, der für die Obritari steht. Die rote Axt auf dem schwarzen Hintergrund der Skauk ist mir am besten bekannt. Zum Schluss ist eine große weiße Silhouette und die kleine schwarze Silhouette auf einem zur Hälfte schwarzen und zur Hälfte weißen Hintergrund abgebildet. Sie stehen für den Ternox Clan, welcher von den Götter-Geschwistern Luma und Nox, die Macht über Licht und Dunkelheit erhalten haben. Ein Platz ist leer, zwischen dem Wappen des Ternox Clans und des Mynua Clans befindet sich eine kahle Stelle, die mit Sicherheit für den Eteren Clan aufgehoben wurde.
Ein Geräusch, nur ein leises Hüsteln, das ich an jedem anderen Ort überhört hätte – jedoch nicht in diesem riesigen Saal, der jedes noch so kleine Geräusch verstärkt – zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Erst jetzt fallen mir die drei Personen auf, die rechts an der Seite aufgereiht stehen und uns interessiert beobachten. Zwei der Männer erkenne ich sofort; Zerans eisblaue Augen sind wie die seines Vaters auf mich gerichtet. Ein triumphierendes Lächeln liegt auf seinen Lippen. Neben ihm General Revinger, welcher mich argwöhnisch mustert, so als würde ich versuchen hier und jetzt zu flüchten. Der dritte Mann ist mir unbekannt; er ist klein, ist genauso breit wie der General allerdings nicht aufgrund von Muskeln, sondern wahrscheinlich seiner Essgewohnheiten nach und hat ein dickes, aufgedunsenes Gesicht.
Mein Blick gleitet wieder zum König. Ich kann spüren, dass seine eisblauen Augen immer noch auf mir liegen, wie kalte Flammen versengen sie meinen Körper, während wir immer näher kommen.
Ich habe geglaubt, dieses edle Kleid und der teure Schmuck würden wie eine Rüstung fungieren und mich irgendwie vorbereiten, den König zu treffen. Ich dachte, ich könnte dadurch meine Rolle besser spielen. Doch jetzt weiß ich, dass ich mir etwas vorgemacht habe. Der König – nein, die Mynua – kann das Innerste eines Menschen sehen, kein schönes Kleid, nicht einmal eine Rüstung aus Metall, könnte mich vor diesem Menschen schützen oder meine wahren Absichten verbergen.
Wir passieren die Bankreihen; nun bin ich dem König so nah, wie ich es nie sein wollte. Fünf Schritte bevor die Treppe beginnt, auf dessen Ende der König thront, bleiben wir stehen. Für einen Moment ist es so leise im Saal, dass ich Angst habe, man könnte mein rasendes Herz hören. Ich starre hinauf zum König und als sein Blick meinen kreuzt, glaube ich, meine Beine würden nachgeben. Sein langes Gesicht, wirkt trotz der Falten zwischen seinen hellen Augenbrauen und um seine kantigen, eisblauen Augen, nicht wie das eines alten, gebrechlichen Mannes, sondern eher an das eines grausamen, vor Macht nur so strotzenden Halbgottes. Seine ernste Miene ist berechnend, während sein Blick langsam über meinen Körper streift, so als würde er mich lesen wie die Seite eines Buches.
Als Caelan bemerkt, wie unverhohlen ich den König anstarre, greift er nach meinem Arm und zwickt mich so fest in eine sensible Stelle, dass ich mir einen quälten Schrei nur mit aller Mühe verkneifen kann. Er verbeugt sich neben mir und erst jetzt erinnere ich mich wieder daran, was er mir zuvor erklärt. Hastig beuge nun auch ich meinen Oberkörper, wobei es keinesfalls so elegant aussieht, wie bei ihm, doch hoffentlich seinen Zweck erfüllt.
Sobald ich mich wieder aufrichte, spüre ich immer noch, wie mich der König beobachtet, doch ich lasse meinen Blick auf den Boden geheftet, um so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Das Geräusch von raschelndem Stoff ertönt, gefolgt von sachten, geschmeidigen Schritten, die von den Wänden wie Donnergrollen widerhallen. In diesem Moment bleibt mein Herz stehen. Mit angehaltenem Atem und meinem Blick immer noch fest zu Boden gerichtet, kann ich nichts tun, außer starr dazustehen und dabei zuzuhören, wie die Schritte immer näher kommen.
Direkt vor mir ertönt eine säuselnde Stimme. „Das ist sie also." Eine Feststellung, keine Frage. Dann tauchen die weiten Gewänder, verziert mit violetten Stickereien, des Königs in meinem Blickfeld auf. Die Angst bildet einen dicken Kloß in meinem Hals, den ich am liebsten hier und jetzt vor seine adeligen Füße erbrochen hätte. „Du besitzt das, wonach ich seit Jahrzehnten suche", richtet er sich direkt an mich. Der König bleibt nur einen halben Schritt vor mir stehen. Jetzt ist er mir so nah, dass mir sein süßlicher, aber auch leicht säuerlicher, nach gärenden Früchten riechender Geruch in die Nase steigt.
„Weißt du, warum ich deine Hilfe brauche, Lilian?" Mein Name klingt fremd aus seinem Mund. Seine Stimme ist auf eine seltsame Weise sogar freundlich, als wäre ich ein Kind und er versuche zu verstehen, wie viel ich weiß. Instinktiv will ich den Kopf schütteln, da der Kloß in meinem Hals immer noch nicht verschwunden ist und ich mir nicht sicher bin, ob ich überhaupt ein Wort herausbringe. Doch dann schnürt sich meine Kehle zu. Es fühlt sich so an, als würden sich Hände um meinen Hals legen und fest zudrücken. Ich versuche einzuatmen, doch es gelingt mir nicht mehr. Jetzt verliere ich jeden Funken Fassung, den ich noch hatte. Ich greife nach meinem Hals, will mich von dem Griff befreien, aber bis auf die Kette befindet sich dort gar nichts. Panisch schaue ich auf. Die eisblauen Augen des Königs direkt vor mir. Seine Miene ist vollkommen entspannt, während mir langsam die Luft ausgeht. Mein Hals beginnt zu brennen. Ich öffne meinen Mund und will fragen, was hier passiert.
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Das letzte Juwel - die Chroniken von Krynia
Fantasy„Ich werde der erste König, der ganz Krynia vereint", erklärt er mit vor Stolz angeschwollener Brust. Dann senkt er seinen Blick und sieht mich direkt an, so als wäre ich ein Schatz, den er keinesfalls verlieren will. ‚Wir werden noch eine Menge Spa...