Die letzten Tage sind gleichzeitig sehr schnell, aber irgendwie auch unheimlich langsam vergangen. Seit wir in Richtung des Tempels aufgebrochen sind – so habe ich es jedenfalls aus den Gesprächen meiner Entführer herausgehört – wird mir die Entfernung zu meiner Familie immer mehr bewusst. Es kommt mir so vor, als wären Jahre vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, obwohl es gerade einmal ein Mond her ist, seit ich in diesen verfluchten Wald gegangen und in die Falle der Obritari gestolpert bin. Hätte ich das alles, was seitdem geschehen ist, nicht am eigenen Leib erlebt, würde ich es mir selbst nicht glauben.
Ich, Lilian Ager, die Tochter eines Bauern, wird von den Söhnen der wahrscheinlich höchstrangigen Mynuas gefangen gehalten, weil sie glauben, ich besäße eine längst ausgelöschte Gabe. Selbst die Geschichten meines Großvaters waren realistischer als diese Situation. Der Teil mit der Gabe ergibt für mich immer noch keinen Sinn und je mehr Zeit vergeht, desto weniger kann ich glauben, dass ich sie wirklich besitze. Wäre ich eine Eterin, dann wäre mir das früher aufgefallen. Ich hätte meiner Familie helfen und unser Feld wachsen lassen können, aber ich habe es weder damals gekonnt noch kann ich es heute.
Das bringt mich allerdings zu einem weiteren Problem, nämlich der Tatsache, dass wir uns gerade auf dem Weg zum Tempel befinden. Ich kann mich noch ganz genau an Ashs Worte erinnern, als sie mich gefangen genommen haben: ‚Sobald wir im Tempel sind, wissen wir es mit Sicherheit. Wenn wir uns täuschen, ist sie tot.' Das bedeutet, ich muss einen Weg finden, um zu fliehen, noch bevor wir den Tempel erreichen.
Die letzten Tage habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ich es schaffe unbemerkt abzuhauen, aber bisher ist mir noch keine Lösung eingefallen. Sie lassen mich wirklich keinen Herzschlag lang aus den Augen. Selbst jetzt, während wir über diese ebene Fläche wandern, geht Caelan vor mir, das Seil meiner gefesselten Hände fest in seiner Hand und Phan befindet sich hinter mir, sein aufmerksamer Blick in meinem Rücken. Ich habe keinerlei Möglichkeit zur Flucht und langsam geht mir die Zeit aus. Lange kann die Reise bis zum Tempel nicht mehr dauern, denn der Mond hat fast wieder seine volle Größe angenommen und Caelan meinte, dann würde die Aufnahmeprüfung enden.
Wir wandern bereits seit vier Tagen, das spüre ich nicht nur in meinen Beinen, sondern erkenne es auch an der Umgebung. Im Gegensatz zu dem Ort, wo ich angespült wurde, befindet sich hier kein dichter Dschungel mehr. Im Westen ist das Land flach und erstreckt sich weiter als ich sehen kann. Tiefwachsende Büsche und hohes Gras in den verschiedensten Grüntönen zieren die endlose Landschaft, nur vereinzelt ragen Bäume aus dem Boden. Wir wandern direkt neben einer grün bewachsenen Felswand, die gerade wie eine Wand in den Himmel ragt. Nach Osten hin – hinter der Felswand – wächst die Landschaft zu einem Gebirge an. Das Gebirge sieht allerdings nicht so aus wie in Grakok, wo die Berge langsam anwachsen und an ihren Gipfeln karg und grau sind. Hier ist alles grün und die Felswände sind so steil und gerade, dass sie fast so aussehen, als wären sie von Menschen gemacht – oder vielleicht von den Göttern. Sie sollen von hier aus unsere Welt geschaffen haben, vielleicht kann man ihre Spuren wirklich noch sehen.
Die Götter waren für mich immer nur Geschichten; ich wusste zwar, dass sie existieren, aber sie haben keine Rolle in meinem Leben gespielt – und tun es eigentlich immer noch nicht. Aber ich erwische mich in letzter Zeit immer öfter dabei, an sie zu denken. Manchmal verfluche ich sie dafür, in diese Situation gekommen zu sein und manchmal frage ich mich, ob und warum sie diesen Weg für mich bestimmt haben. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, denn in letzter Zeit ist so viel geschehen, das mich in meinen Grundfesten erschüttert hat, dass auch dies zu meiner plötzlichen Gottesfurcht führen hätte können. Über Silva, den Gott des Waldes, von dem ich diese angebliche Gabe habe, weiß ich ebenso wenig wie über den Eteren Clan. Mein Großvater hat nie Geschichten über die Etere erzählt; immer wenn Gaya und ich ihn darum gebeten haben, meinte er nur, dass sie ihre Gaben dem Wald geschenkt haben, damit er ihr Land beschützt. Seitdem seien sie verschwunden und nie wieder gesehen worden.
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Das letzte Juwel - die Chroniken von Krynia
Fantasy„Ich werde der erste König, der ganz Krynia vereint", erklärt er mit vor Stolz angeschwollener Brust. Dann senkt er seinen Blick und sieht mich direkt an, so als wäre ich ein Schatz, den er keinesfalls verlieren will. ‚Wir werden noch eine Menge Spa...