Kapitel 7

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Auch am nächsten Tag schrubbe ich den Boden an Deck. Mittlerweile ist Tag acht meiner Gefangenschaft. Der Himmel ist bewölkt und erstrahlt in einem hellen Grau. Eiskalter Wind umzüngelt meinen Körper. Wellen brechen wie Donner gegen das Schiff. Auf dem Vorderdeck, genau an der Spitze, steht Hauptmann Horras. Er steht nicht da, weil er auf mich aufpasst – jedenfalls sieht er mich nicht an. Sein Blick ist starr auf das Meer vor uns gerichtet. In fließenden Bewegungen streckt er seine Arme nach vorne, teilt die Luft vor sich und wiederholt die Abfolge. Zuerst verstehe ich nicht, was er da macht, dann jedoch spüre ich etwas. Es ist, als würde die Luft um ihn herum erzittern. Wie kleine Blitze tanzt die Energie, die von ihm ausgeht, auf meiner Haut. Ich folge seinem Blick. Die dunklen Wolken, gerade aus vor uns, scheinen sich mit den Bewegungen seiner Arme zu verändern. Sie teilen sich, sobald er die Hände vor sich auseinanderzieht, aber strömen sofort wieder zusammen. Der Hauptmann muss meinen Blick spüren, denn er dreht sich abrupt um und sieht mich an. „Trödel nicht", mahnt er mich und wendet sich gleich wieder ab. Ich schrubbe den Boden etwas schneller, aber nicht so schnell, wie ich es eigentlich könnte. Währenddessen beobachte ich den Hauptmann weiterhin fasziniert aus meinem Augenwinkel. Das muss seine Fähigkeit sein. Ich habe noch nie gesehen, wie jemand seine Gabe eingesetzt hat. Natürlich könnte ich mich auch täuschen, aber was sollten diese Bewegungen sonst bedeuten? Die dunklen Wolken am Horizont verändern zwar nicht ihre Form, doch es muss die Macht von Empesta sein. Wahrscheinlich ist das vor uns einer dieser göttlichen Stürme, von denen der Hauptmann gestern gesprochen hat, sonst müssten sich die Wolken verziehen. Das würde auch die angespannte Stimmung der restlichen Männer an Deck erklären. Ich habe fast den mittleren Teil des Schiffes, der etwas tiefer liegt, vollständig gewischt, als der Hauptmann auf mich zukommt. „Komm mit", weist er mich an. „Aber ich bin noch nicht fertig", erwidere ich und blicke auf das Hinterdeck, wo sich ein riesiges, hölzernes Lenkrad befindet. „Der Regen wird dir die Arbeit abnehmen", antwortet der Hauptmann nur und nimmt mir den Wischmopp und den Eimer aus der Hand. „Geh runter, ich komm' gleich", befiehlt er mir. Ich rieche meine Chance und folge seinen Anweisungen wortlos. Allein steige ich hastig die Treppe hinunter und setze mich vor den eisernen Ring. Für einen kurzen Moment halte ich inne und schaue mich um. Die Tür gegenüber von mir ist verschlossen und auch die Stufen sind leer. Mein Herz pocht mir zwar bis zum Hals, doch ich wage es trotzdem. Hastig greife ich in meinen Ausschnitt und ziehe den Dolch heraus. Schnell verstecke ich ihn, indem ich mich einfach darauf setze. Dann warte ich. Mein ganzer Körper zittert, als der Hauptmann die Stufen herunterkommt. Er mustert mich kritisch, und für einen Moment glaube ich, er hat mich durchschaut. Doch er verhält sich wie immer; er gibt mir wieder eine Scheibe Brot und einen Bota und sieht mir zu, während ich esse. Mein Herz schlägt wild gegen meine Brust, doch ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Sobald ich fertig bin, fesselt der Hauptmann mich und bindet das Seil um den Ring hinter mir. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, dreht er sich um und geht wieder an Deck. Mit klopfenden Herzen und panischen Gedanken bleibe ich zurück. Wenn ich wollte, könnte ich den Dolch einfach nach hinten schieben und mit meinen Händen das Seil zwischen dem Ring und mir zerschneiden. Aber was würde mir das bringen? Wegschleichen ist auf einem Schiff schwer möglich. Wenn der Hauptmann mich morgen wieder zum Schrubben an Deck bringt, muss ich den Dolch jedoch irgendwo versteckt haben. Oder ich muss zu diesem Zeitpunkt bereits abgehauen sein. Doch wie soll ich das anstellen? Angestrengt überlege ich. Es muss einen Ausweg geben. Und dann fällt mir etwas ein. Es gibt noch ein Boot. Gestern ist es mir aufgefallen – aber ich weiß nicht, wie ich unbemerkt dorthin kommen soll. Mit vielen Seilen ist ein kleines Beiboot an der Seite des Schiffs befestigt. Wenn ich es schaffen würde, es unbemerkt loszumachen, könnte ich damit nach Hause kommen – oder zumindest weg von diesen Menschen und irgendwie würde ich es dann schon schaffen. Allerdings wird es schwierig, unauffällig zu sein; ob nachts oder tagsüber, es sind immer Männer an Deck. Aber wenn ich es versuche, dann muss ich es nachts tun. Ein Ruck geht durch meinen Körper. Schmerz durchzuckt mich und lähmt mich für einen Herzschlag lang, dann reiße ich meine Augen auf. Der Boden unter mir bewegt sich so stark, dass ich hin und her geworfen werde. Nur wegen meiner Fesseln bleibe ich an Ort und Stelle. Eiskaltes Wasser tropft auf mein Gesicht und ich blicke erschrocken nach oben. Zwischen den Holzplanken bahnt sich Wasser seinen Weg und tropft durch die zahllosen Lücken. Es ist unglaublich laut. Regen schlägt mit einer Wucht gegen die Decke, dass ich glaube, sie könnte jeden Moment zerbersten. Das Tosen des Windes klingt wie ein schriller Hilferuf. Das muss der göttliche Sturm sein, von dem der Hauptmann gesprochen hat. Die Seile, die die Kisten fixieren, sind bedrohlich gespannt. Die Öllampe neben der Tür wankt mit den Bewegungen des Wassers und ihr schwaches Licht beleuchtet dabei einmal einen Teil des Raumes und dann den anderen. Die Luke, um an Deck zu gelangen, ist verschlossen und die Tür gegenüber ebenso. Schritte kann ich über mir keine hören, aber das liegt wahrscheinlich eher am Regen, als daran, dass dort niemand ist. Jetzt ist der Moment, schießt es mir durch den Kopf. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich diesen Gedanken habe, aber irgendetwas in mir will glauben, dass die Götter diesen Sturm geschickt haben, damit ich mich befreien kann. Mein Großvater hat auch immer gesagt, die Götter werden dir nie helfen, aber sie werden eine Situation schaffen, in der du dir selbst helfen kannst. Und das muss diese Situation sein, von der er gesprochen hat. Und wenn ich jemals die Hilfe der Götter gebraucht habe, dann ist es jetzt. Ich habe keine Ahnung, woher mein Mut kommt, aber ich schiebe den Dolch, auf dem ich immer noch sitze, so weit nach hinten, bis ich ihn mit meinen zusammengebundenen Händen erreiche. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich die Klinge anhebe und sie ungeschickt gegen das Seil halte. Mit sägenden Bewegungen versuche ich mich zu befreien. Sobald die nächste Welle das Schiff nach rechts wirft, reißt das Seil und ich werde hart gegen eine Kiste geschleudert. Mit zusammengebissenen Zähnen hebe ich ein weiteres Mal den Dolch und versuche den Knoten, um meine Hände zu zerschneiden. Nur mit Mühe kriege ich es hin, den Dolch so zu halten, dass ich an meine Handgelenke komme. Ich kann die eiskalte Klinge an meiner Haut fühlen und bete zu den Göttern, dass jetzt nicht eine weitere Welle kommt und ich mich aus Versehen selbst verletze und dann hier unten verblute. Ich keuche angestrengt, während ich die Klinge vorsichtig auf und ab bewege. Es kommt mir ewig vor, wie ich versuche, mich zu befreien, doch niemand kommt an mir vorbei. Als ich endlich meine Arme wieder bewegen kann, kann ich kaum glauben, was ich hier tue. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wenn sie mich erwischen, bin ich tot. Ich muss mich an der Wand abstützen, um aufstehen zu können. Taumelnd gehe ich auf die Treppe zu, bereue es aber sofort, weil ich bei der nächsten Welle gegen die Stufen geschleudert werde. Ich muss meine Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzuschreien. Auch wenn der Regen meine Schreie mit Sicherheit übertönt hätte. Ohne den Schmerz zu beachten, knie ich mich auf eine der Holzstufen und halte mich fest. Für einen Moment halte ich inne, atme tief ein und aus. Ich schaffe das, sage ich mir immer wieder. Dann fasse ich meinen ganzen Mut und hebe meinen Arm. Nur ganz leicht drücke ich gegen die Platte, die mich von der Freiheit trennt. Ich werde von einer Welle der Erleichterung gepackt, als sie bei meinem leichten Druck nachgibt und nicht verschlossen ist. Ich hebe sie nur einen Fingerspalt an und luge nach draußen. Sofort wird mir Wasser vom Wind in die Augen gepeitscht. Riesige Regentropfen prasseln gegen den Boden. Das Holz ist mittlerweile so durchnässt, dass es ganz schwarz aussieht. Ich versuche zu erkennen, ob draußen jemand ist, doch ich sehe nichts. Alles um mich herum ist tiefschwarz. Mein Herz hämmert wild gegen meine Brust, als ich die Platte mit einem Ruck hochschiebe und schnell aus dem Loch krieche. Die Luke hinter mir schließt sich, ohne dass ich es überhaupt höre. Draußen ist es stockfinster. Ich kann nicht einmal meine Hand vor Augen sehen. Obwohl ich auf dem Boden liege, zerrt der Wind so sehr an meinem Körper, dass ich Angst habe, ich könnte einfach davonfliegen. Diesmal mache ich nicht den Fehler, aufzustehen, sondern bleibe gleich am Boden. Der Regen schneidet in meine Haut, so als würden tausende kleine Dolche auf mich herunterfallen. Das Meer – oder ist es der Sturm? – grölt, wie tiefer Donner. Das Geräusch ist so laut und furchteinflößend, dass es auch von einem Ungeheuer hätte kommen können. Ich versuche mir das Schiff vorzustellen, um mich in dieser Finsternis zu orientieren. Auf dem Boden krabbelnd bewege ich mich in die Richtung, in welcher ich das kleine Boot vermute. Inständig hoffe ich, dass ich mich nicht täusche oder mich irgendjemand sieht. Was würden sie mit mir anstellen, wenn sie mich hier finden würden? Von meiner Angst getrieben, werde ich immer schneller. Jedes Mal, wenn sich das Schiff in die andere Richtung neigt, rutsche ich wegen des glitschigen Bodens zurück. Meine noch gesunden Fingernägel graben sich dabei schmerzhaft in die Holzplanken. Keuchend komme ich irgendwann an der Reling des Schiffs an. Ich klammere mich am Geländer fest und ziehe mich hoch. Zwei Schritte rechts von mir sehe ich das Boot. Darunter ist alles tiefschwarz. Würde ich die Wellen nicht gegen das Schiff schlagen fühlen, könnte ich meinen, dort unten befände sich einfach nichts. Ich will gerade die Seile, die das Boot halten, durchschneiden, als ein Ruck durch das Schiff geht. Ein schriller Schrei entfährt meiner Kehle, als ich das Gleichgewicht verliere und nach vorne geworfen werde. Panisch rudere ich mit meinen Armen. Holzspäne bohren sich in meine Hände, als ich etwas zu fassen bekomme. Meine Arme zittern, als ich, nur von ihnen gehalten, an der Reling des Schiffes baumle. Ich strample vom Schreck gepackt wild mit meinen Beinen, doch unter mir ist nichts. Das kleine Boot ist viel zu weit von mir entfernt, als dass ich hineinspringen könnte. Mit aller Kraft versuche ich mich nach oben zu ziehen, als eine weitere Welle das Schiff erfasst. Ich werde mit voller Wucht gegen das Holz geworfen. Meine linke Hand rutscht vom Geländer. Der Schmerz in meiner rechten Hand zerreißt mich. Für einen Moment blicke ich geradewegs ins dunkle Nichts, das unter mir rumort wie ein wildes Tier. Dann falle ich. Eiskalt. Mein Herz bleibt in diesem Moment stehen. Alle Geräusche sind mit einem Mal verstummt. Schwärze umgibt mich. Ich weiß nicht, wo oben oder unten ist. Die Wassermassen reißen mich mit, als wäre ich nichts als ein dünner Ast. Ich strample mit meinen Armen und Beinen, so als wolle ich mich nur aus einer engen Decke befreien, doch es funktioniert nicht. Ich öffne meinen Mund, weil ich keine Luft bekomme und Wasser strömt hinein. Eine weitere Welle der Panik ergreift mich. Ich fasse um mich, suche nach etwas, woran ich mich festhalten kann. Nichts. Plötzlich höre ich die Stimme meines Großvaters und mein eigenes Lachen. Nun ist es vorbei, ich werde sterben.

Das letzte Juwel - die Chroniken von KryniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt