„Lili, komm schon. Wach endlich auf." Jemand rüttelt an meinem Körper und als ich die Stimme höre, reiße ich mit einem Mal meine Augen auf. „Gaya?" Das kann nicht wahr sein. Doch sie steht vor mir. Selbst in dieser Dunkelheit erkenne ich ihre glänzenden Locken und ihre warmen braunen Augen. „Endlich bist du wach." Erleichterung schwingt in ihrer Stimme mit. Sie greift nach meinen Händen und beginnt damit, die Knoten meiner Fesseln zu lösen. „Was machst du hier?", zische ich plötzlich panisch. Sie darf nicht hier sein! Sie kann nicht auf Baleros sein, ihr darf nicht dasselbe Schicksal widerfahren wie mir. „Erklär' ich dir später", erwidert sie ebenso leise, ohne ihren Blick vom Seil um meine Handgelenke zu heben. „Hau ab. Sie dürfen dich nicht auch erwischen", dränge ich sie. Sofort schüttelt sie den Kopf. „Wenn du endlich aufhörst zu diskutieren, dann tun sie das auch nicht", ihre Stimme ist so schneidend, dass ich es nicht wage, ihr zu widersprechen. So habe ich sie noch nie erlebt. Wie kommt sie überhaupt hierher? Es scheint mir eine Ewigkeit zu vergehen, bis sie endlich den Knoten löst und meine Hände frei sind. Angestrengt starre ich auf die Zelte, die in dieser Dunkelheit fast unsichtbar sind. Nichts darin regt sich. Sofort beugt sich Gaya zu meinen Füßen und löst auch dort den Knoten. „Komm schon, wir müssen weg von hier", flüstert sie und zieht mich auf meine Beine. Ich lasse alles widerstandslos mit mir geschehen. Obwohl Gaya vor mir steht – ich kann sogar ihre Berührung spüren – kann ich nicht glauben, dass wirklich sie es ist. Aber ich kann mich auch nicht wehren. Es tut so gut, sie zu sehen; ihren Geruch von Heimat und Liebe wieder in der Nase zu haben. Ich werfe einen letzten Blick über meine Schulter, bevor wir im Dickicht des Waldes verschwinden. Es ist so dunkel, dass wir nur langsam vorankommen. Nahezu geräuschlos huschen wir durch den Wald. Keine von uns sagt ein Wort. Obwohl ich Gaya in diesem Moment so vieles fragen will, folge ich ihr stumm. Erst als mir vorkommt, dass wir so weit von den Mynua entfernt sind, dass sie uns nicht mehr einholen können, greife ich nach Gayas Arm und ziehe sie zurück. „Wohin gehen wir?", will ich von ihr wissen. „Eine Höhle, sie ist nicht mehr weit", erwidert sie knapp und dreht sich wieder um. Hastig folge ich ihr. „Wie kannst du hier sein?", frage ich nur, weil das alles ist, woran ich gerade denken kann. „Ich musste dich doch befreien. Du bist meine Schwester", antwortet sie, ohne stehenzubleiben. In ihrer Stimme liegt so viel Liebe, dass es mir fast das Herz zerreißt. In diesem Moment realisiere ich, dass ich es nun geschafft habe. Ich mache einen tiefen Atemzug. Die Freiheit ist zum Greifen nah – wir müssen nur noch ein Schiff von dieser Insel finden. Mein Herz wird bei jedem Schritt, den wir machen, etwas leichter. Die Anspannung, die sich an mir festkrallt, seit ich im Wald in diese Falle geraten bin, fällt langsam von mir ab.
„Komm, hier rein." Sie schiebt eine Wand aus Pflanzen zur Seite, dahinter kommt eine Höhle zum Vorschein. Ein schmaler Gang führt in den Felsen hinein und wäre da nicht dieses schwach flackernde Licht am Ende, würde ich nicht glauben, dass er irgendwo hinführt. Gaya geht voran und ihre Schritte sind so schnell, dass sie einige Augenblicke vor mir um die Ecke biegt. Als ich folge, bleibt mir bei dem Anblick, der sich mir bietet, mein Herz stehen. „Gaya lauf, das ist Ridge!", schreie ich panisch, doch sie bewegt sich kein Stück, wenn überhaupt, kommt es mir so vor, als würde sie noch näher an ihn heranrücken. „Lili, beruhig dich. Das ist Sandriel, er hat mich zu dir gebracht", erwidert sie vollkommen überzeugt von ihren eigenen Worten. Ich sehe, wie Ridge seine Hand um die Hüfte meiner Schwester legt und sie an sich zieht. „Genau Lili, ich helfe dir", seine helle Stimme hallt in der Höhle wieder und seine honiggoldenen Augen funkeln in dem schwachen Licht. Der Spitzname, den mir meine Schwester gegeben hat, klingt aus seinem Mund bitter. Als dieses spöttische Grinsen an seinen Mundwinkeln zieht, wird mir klar, was hier geschieht. Sofort schließe ich meine Augen. „Es ist nur ein Traum", sage ich und wiederhole die Worte immer wieder. Ich mache das so lange, bis mich die Dunkelheit endlich verschluckt..
Keuchend komme ich zu Bewusstsein. Die Seile, die eng um meine Handgelenke und meine Füße liegen, machen noch einmal deutlich, dass alles ein Traum war. So wie die letzten Tage auch. Sobald ich meine Augen öffne, ist Ridge – mit seinem immer selben, mich mittlerweile zur Weißglut treibenden, Lächeln auf den Lippen – das Erste, was ich sehe. „Schön geträumt?", gurrt er, als wäre er meine Mutter, die mich gerade aus dem Schlaf weckt. Meine steifen Glieder tun weh, als ich mich aufsetze und gegen den Baum hinter mich lehne. „Lass meine Schwester in Ruhe", zische ich, aber weiß bereits jetzt, dass es vergeblich ist. Er wird nicht damit aufhören, dafür genießt er es zu sehr. Ich höre ihn schnauben. „Das tue ich doch, ich schleiche mich nur in deinen Kopf und irgendwie treffe ich sie dann immer dort. Es ist deine Schuld, dass du ständig von ihr träumst", erwidert er grinsend. Ich antworte ihm nicht. So geht das schon seit sechs Tagen. Sie lassen mich nie allein. Die Seile, die auch um meine Hände liegen, haben sie um den Baum geschlungen. Auch meine Füße haben sie gefesselt, sodass ich mich kaum gerade gehen kann. Nur wenn ich zwischen den Büschen hinter dem Baum mein Geschäft erledige, bin ich für wenige Augenblicke allein – jedenfalls fast. Denn immer ist einer von ihnen in meiner Nähe; tagsüber ist es Caelan, der mich bewacht, aber nachts wechseln sie sich ab; alle bis auf Zeran. Und Ridge ist der Schlimmste von ihnen. Jede Nacht beschert er mir einen neuen Traum, der schrecklicher ist als der zuvor. In meinen Träumen sind meiner Familie Dinge zugestoßen, die ich mir nicht einmal ausmalen könnte. Einmal habe ich sie verhungern sehen. Ein anderes Mal waren sie mit Jonael in den Mienen bei Meranthis, als eine davon zusammengebrochen ist und sie alle unter sich begraben hat. Und wieder ein anderes Mal haben die Skauk unsere versteckten Vorräte entdeckt und sie alle vor mir umgebracht. Irgendwo dazwischen war immer Ridge. Manchmal habe ich ihn gleich erkannt, manchmal erst im Laufe des Traums; aber verstanden, dass es sich dabei nicht um die Realität handelt, habe ich immer erst zu spät. Obwohl ich diese Bilder fast jede Nacht sehe, schockieren sie mich immer noch. Es ist, als würden sie wirklich jedes Mal sterben und ich bin völlig hilflos.
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Das letzte Juwel - die Chroniken von Krynia
Fantastik„Ich werde der erste König, der ganz Krynia vereint", erklärt er mit vor Stolz angeschwollener Brust. Dann senkt er seinen Blick und sieht mich direkt an, so als wäre ich ein Schatz, den er keinesfalls verlieren will. ‚Wir werden noch eine Menge Spa...