Mit dem letzten Sonnenstrahl verlassen wir Meranthis. Der Himmel brennt in satten Orangetönen und erinnert mich an ein Gemälde, welches ein Künstler vorhin lautstark beworben hat. Als wir außerhalb der Stadt sind, wird es auf einen Schlag still. Die Musik und das Geschrei von Betrunkenen, Kindern und Händlern hallt noch in meinen Ohren. Die vielen Eindrücke und besonders das zufällige Aufeinandertreffen mit Jonael haben mich erschöpft. Nicht körperlich, so wie der bevorstehende Marsch, sondern mental. Vorgeführt zu bekommen, welches Schicksal einen erleiden könnte, ist beängstigend. Diese Furcht, die dadurch entstanden ist, hat sich wie ein Insekt in mir eingenistet. Es frisst sich langsam in meinen Kopf hinein und bereitet ein Nest für die zahllosen Larven aus Sorgen, die es dort legen wird.
Mein Vater bleibt die ganze Zeit über still. Zwei Goldmünzen und vier Silberlinge sind uns geblieben, nachdem die Skauk ihren Anteil abgezogen haben. Zu wenig – oder habe ich mir einfach nur mehr erhofft? Wir konnten zwar fast alles verkaufen, aber mein Vater musste sich von den Kunden weit hinunter handeln lassen. Seine dunklen Augenbrauen sind streng zusammengezogen, sein Gesicht fahler als sonst und seine Augen wässrig. Ich wünschte, ich könnte etwas sagen, das ihm Mut gibt. Aber ich kann es nicht, weil ich selbst nicht weiß, ob ich genug davon habe und so gehen wir stumm nebeneinander her. Das einzige Geräusch die klappernden Räder des Karrens. Zumindest ist dieser nicht mehr so schwer wie heute Morgen, denke ich mir, während ich einen Fuß vor den anderen setze und vergeblich nach einem Grashalm Hoffnung suche.
Auf dem Weg zurück sind wir schneller; Abwärtslaufen ist zwar weniger kräftezehrend, aber dafür schmerzen einem die Knie. Die Luft wird langsam aber sicher etwas kühler und auch die warmen Farben am Himmel scheinen zu verblassen. Während wir den Weg hinab zur Hauptstraße wanderten, hatte ich so viele Gedanken im Kopf, dass ich glaubte, er könnte platzen und so viele Sorgen, dass ich einen ganzen See hätte weinen können. Aber mir ist klar geworden, dass das alles nichts bringt. Niemandem hilft es, wenn ich ein Nervenbündel bin. Davon kann ich meine Familie nicht ernähren. Deshalb habe ich einen Entschluss gefasst. Von nun an werde ich nicht mehr über meine Machtlosigkeit nachdenken und das bisschen Macht, das mir geblieben ist, ausnutzen. An dem unablässigen Griff der Skauk kann ich nichts ändern, aber ich kann alles tun, was mir möglich ist, dass meine Familie zusammenbleibt und überlebt. Kurz bevor wir wie üblich die Straße in Richtung unseres Hauses verlassen, bleibe ich stehen. Verwirrt hält auch mein Vater an. Seine mittlerweile müden Augen richten sich erwartend auf mich. Kurz fehlen mir die Worte. Ich weiß nicht, wie ich mein Vorhaben formulieren soll, denn ich will ihm nicht zeigen, dass auch ich unsere Situation kritisch einschätze. Aber wir wissen beide, dass es so ist und es zu leugnen, bringt uns auch nicht weiter. „Ich glaube, ich habe vorhin ein paar Kaninchen zwischen den Bäumen gesehen", sage ich und werfe einen Blick in Richtung des Waldes. Die Augenbraue meines Vaters hebt sich. „Ich könnte Beeren und Wurzeln sammeln und vielleicht fang' ich ja auch mal ein Kaninchen", füge ich hinzu. Im Herbst gehen wir oft in den Wald, sammeln Beeren, Pilze und alles, was man essen kann. Als ich klein war, hat mein Großvater mir gezeigt, wie man Schlingen bindet und Fallen stellt. Zwar waren seine Fallen viel erfolgreicher als meine, aber vielleicht habe ich heute einmal das Glück auf meiner Seite. Für einen Moment verharrt mein Vater und überlegt. Vielleicht stellt er sich gerade einen Eintopf, mit einer saftigen Kaninchenkeule darauf, vor, denn er nickt und sagt: „Ja, das wäre wirklich schön." Kurz bin ich perplex, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass er zustimmt. Allein war ich bisher nur wenige Male im Wald; meistens haben mich meine Geschwister oder unsere Großmutter begleitet. Aber die Verzweiflung lässt uns nichts anderes übrig. Während mein Vater die Seile zusammenrollt, ziehe ich den Ledergurt des Karrens aus. Als er vor mir steht, eine Ledertasche fest umklammert, hält er inne. Kurz weicht die Müdigkeit aus seinem Gesicht und er lächelt. „Du warst schon immer eine Kämpferin", seine Augen funkeln. Es scheint, als wolle er noch etwas sagen, doch er drückt mir die Ledertasche in die Hand, klopft mir nur auf die Schulter und meint: „Fang uns, was Gutes." Schnell durchwühle ich die Tasche; abgesehen von den Seilen befindet sich darin ein weiteres Messer und einige leere Beutel. Allein das Gefühl, das sich nun in mir ausbreitet, gibt mir die Kraft, um so lange durch diesen Wald zu stampfen, bis ich etwas Essbares gefunden habe. „Ich komme mit dem größten Kaninchen ganz Grakoks zurück", verspreche ich ihm und erwidere sein Lächeln. „Gib auf dich acht", ruft er mir zu, während er sich langsam auf den Weg abwärts macht. Der Karren folgt ihm ratternd und ich bleibe noch einen Moment an Ort und Stelle stehen und sehe ihm nach.
In der Nähe von Meranthis ist der Wald noch recht karg, weshalb ich an der Baumgrenze weiter nach Osten laufe. Dort kenne ich den Wald besser als hier, er ist dichter und es gibt einen kleinen See, in welchem mir mein Großvater das Schwimmen beigebracht hat. Die Sonne ist zwar bereits hinter den Bergen verschwunden, doch ihr Licht erhellt die Umgebung immer noch. Und auch wenn die Nacht anbricht, ist es kein Problem, denn wir haben einen zunehmenden Mond und in aller größter Not könnte ich auch ein Feuer machen.
Sobald die Bäume etwas dichter beieinander stehen, wage ich mich tiefer in den Wald hinein. Unter der Blätterdecke ist es kühl, aber die Luft steht still. Im Gegensatz zu Meranthis gibt es hier keine störenden Geräusche. Obwohl die Rufe der Vögel durch den Wald hallen, Büsche und Blätter immer wieder rascheln und auch Äste geräuschvoll knicken, fühlt sich jedes dieser Geräusche auf eine seltsame Weise natürlich an. Als wäre alles so, wie es sein soll, hier, wo nichts auf die Clans oder ihre Götter schließen lässt. Der warme, hölzerne Duft der Kiefern wird intensiver, je weiter ich in den Wald hineinlaufe.
An lichteren und bereits abgetretenen Wegen, bei denen ich vermute, dass sie von Tieren genutzt werden, stelle ich meine Fallen auf. Dafür binde ich die Seile an Bäumen fest und mache eine einfache Schlinge, die ich mit allem verstecke, was ich in der Nähe finde. Mit meinem Dolch ritze ich ein L in den Baum als Markierung für meinen Weg und die Falle, dann bewege ich mich weiter. Ich weiß nicht, wie lange ich durch den Wald laufe und Fallen aufstelle, aber irgendwann stoße ich zufällig – oder vielleicht mehr aus Gewohnheit – auf den kleinen See. Das Licht des Mondes glitzert auf der dunklen Wasseroberfläche und ich will mich schon für einen Moment hinsetzen, als mir etwas auffällt. Direkt in der Nähe des Ufers erkenne ich einen Strauch, dessen dünne Äste von vielen Blättern geziert werden und sich über der Wasseroberfläche krümmen. Himbeeren. Ich mache mich sofort auf den Weg dahin, denn je länger ich die Fallen in Ruhe lasse und je weiter ich mich davon entferne, desto eher wird sich ein Tier aus seinem Versteck wagen und hoffentlich darin verfangen. Als ich an den Sträuchern ankomme, stoße ich auf mehr, als ich erwartet habe. Trotz des spärlichen Lichts von oben sehe ich mehr Beeren, als ich zählen kann. Ich zögere keinen Herzschlag lang und beginne, mit einem leeren Lederbeutel bewaffnet, die Beeren zu pflücken. Ich schiebe mir selbst auch eine in den Mund, sie schmeckt so süß wie die Hoffnung und Erleichterung, die sich in mir breit machen. Alles wird gut, sage ich mir ein weiteres Mal und mache mich daran, jede Beere in diesem Wald mitzunehmen. Immer wenn ich einen Strauch vollständig geleert habe, stoße ich auf einen weiteren. Der Gedanke, dass meine Großmutter sogar Marmelade machen könnte, wenn ich nur genug finde, treibt mich an, weiterzumachen. Ich bin wie ein hungriges Tier, das seinen Knochen bis aufs letzte Stück abnagt.
Ein viel zu lautes Rascheln in meiner Nähe reißt mich aus meiner Trance. Sofort verharre ich an Ort und Stelle, bleibe völlig reglos und sehe mich um. Das Mondlicht kommt nur spärlich durch die Blätterdecke, was es mir schwer macht, etwas zu erkennen. Doch die Geräusche sind eindeutig. Sie kommen weder von einem Tier noch dem leichten Wind, der mittlerweile aufgekommen ist. Sondern von Menschen. Hastig bücke ich mich und rücke so nah an die Himbeersträucher heran, wie ich nur kann. Mit angehaltenem Atem und laut pochenden Herzen versuche ich die Richtung der Geräusche auszumachen. Die Fremden sind so weit entfernt, dass sie mich nicht zufällig entdecken könnten, aber auch zu nah, um mir keine Sorgen zu machen. Denn, wenn ich sie hören kann, dann könnten sie mich auch hören. Panisch denke darüber nach, was ich nun tun soll. Ich kann nicht einschätzen, wie viele es sind, aber sicher mehr als zwei. Wenn ich richtig liege, gehen sie in Richtung meiner Fallen. Am liebsten würde ich ganz schnell dorthin laufen, kontrollieren, ob sich etwas darin verfangen hat und mich sofort aus dem Staub machen, damit sie nicht zuerst darauf stoßen. Doch das wäre viel zu auffällig, selbst wenn es nur Leute, wie ich sind, kann ich es nicht riskieren. Niemals wäre ich so leise und käme so schnell dorthin, ohne dass die Möglichkeit besteht ihren Weg zu kreuzen oder ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
Hier draußen, ganz im Nordosten Grakoks, sind nicht viele Menschen. Hier befindet sich zwar der Wald, aber er wird, wenn nur für sein Holz genutzt oder von einigen verzweifelten Leuten, wie ich es bin, als Jagdrevier. Aber es gibt auch Plünderer, die sich manchmal in diese Gegend verirren und im Wald Schutz vor den Skauk suchen – und diese sind mit den Clanmitgliedern wirklich die letzten, auf die ich hier treffen möchte.
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Das letzte Juwel - die Chroniken von Krynia
Fantasía„Ich werde der erste König, der ganz Krynia vereint", erklärt er mit vor Stolz angeschwollener Brust. Dann senkt er seinen Blick und sieht mich direkt an, so als wäre ich ein Schatz, den er keinesfalls verlieren will. ‚Wir werden noch eine Menge Spa...