Caelans POV
„Melgren Prax", ruft Sophos Alvon und ein weiterer Obritari tritt ins Auge der Götter. Um ihn prickelt ein blass gelber Nebel, die Farbe zeugt eindeutig von seiner Angst und die hastigen Bewegungen des Nebels sprechen für die Unruhe des Anwärters. Trotz der Sorgen, die sich der Obritari macht, leuchtet der Diamant auf, sobald er seine Hand in die Schale steckt und erhellt das Auge der Götter.
„Wir kommen nun zum letzten Clan", ruft General Revinger und ich kann mir mein erleichtertes Aufatmen nicht verkneifen. Dieses Ritual dauert wirklich fast die ganze Nacht. „Jetzt werden die Anwärter des Mynua Clans aufgerufen", fügt er laut hinzu. Mit einem Seitenblick zu den anderen vergewissere ich mich, dass sich dieses Ritual für sie genauso zieht wie für mich. Nun, da der General unseren Clan erwähnt hat, setzen sie sich mit vor Müdigkeit kleinen Augen wieder auf.
Nur Lilian bewegt sich kein Stück. So als könnte sie sich nicht mehr bewegen, starrt sie seit Stunden mit weit aufgerissenen Augen in die Luft. Nur der schwefelgelbe, von grauen, fast schwarzen Schlieren durchzogene Nebel um sie herum, zeugt davon, dass sie noch am Leben ist und nicht zu Stein erstarrt.
Die Namen, die vom Sophos aufgerufen werden, sind mir fast alle bekannt. Alero M'Orian ist ein Wahrheitsseher und der Sohn von General Sendriel M'Orian, dem Clanmitglied, der die Arbeitslager in ganz Myrandola leitet. Jermaya Lesondra ist wie ich ein Gefühlsmanipulator und seine Familie besitzt die größte Textilproduktion Krynias. Wallrian Thondriell, der Cousin von Zeran, der wegen seiner seltenen Gabe noch aufgeblasener ist als der Kronprinz selbst, wird ebenfalls aufgerufen und genießt das leise Geflüster, das wegen seines Namens laut wird. Wallrian ist ein Rückblicker, er kann Erinnerungen anderer lesen und sie vielleicht auch irgendwann verändern. Uridaron Destroni wird gleich nach Wallrian aufgerufen, er ist der Sohn des Schatzmeisters der Krone und der engste Freund von Wallrian.
„Zeran Slyamon Thondriell", höre ich die Stimme des Sophos und plötzlich wird es ganz still. Schon davor hatte ich gedacht, es wäre leise, doch jetzt scheint selbst der Fluss etwas weniger laut zu rauschen. Ohne zu zögern, erhebt sich Zeran.
Nur ein Blick in die Menge genügt, um von der magentafarbenen Bewunderung und den hellroten unterwürfigen Sprenkeln darin überrollt zu werden. Die vielen Gefühlsnebel sind so ineinander verwoben, dass es auch eine riesige Nebelschwade sein könnte.
Wie in Wellen vibrieren die Emotionen um mich herum. Ich kann ihre Bewunderung, aber auch Neugier und Ehrfurcht durch meinen Körper fließen spüren und muss mich zusammenreißen, um nicht sofort aufzuspringen und diesen Tempel zu verlassen.
Gefühlsmanipulatoren sind nicht dafür gemacht, in Menschenmengen zu sein. Wir sehen die Gefühle anderer nicht nur, sondern spüren sie auch – und können davon selbst beeinflusst werden. Zu viele Emotionen überlasten den Geist und machen einen Gefühlsmanipulator anfälliger dafür, dass fremde Gefühle die Kontrolle über sie übernehmen.
Doch ich darf mir meine Schwäche nicht anmerken lassen. Niemand darf mitbekommen, dass eine Situation wie diese mich fast handlungsunfähig macht. Deshalb presse ich meine Zähne zusammen und starre angestrengt auf den Boden.
Die Anspannung der Anwärter ist zu meiner eigenen kribbelnden Aufregung geworden und ihre schwärmerische Bewunderung hat sich auf mich übertragen. Die Verehrung für Zeran schmeckt bitter auf meiner Zunge und treibt mir Galle die Kehle hoch. Ich muss schlucken, um mich nicht hier und jetzt zu übergeben. Angestrengt kneife ich meine Augen zusammen und fokussiere mich darauf, jegliche Emotionen von mir wegzuschieben.
Erst als Zeran sich wieder hinsetzt und Ridge aufgerufen wird, ebben die intensiven Gefühle der Anwärter etwas ab und ziehen sich langsam aus meinem Geist zurück. Nun, wo nicht mehr der Kronprinz vor ihnen steht, sind ihre Emotionen schwächer. Was die Situation wieder etwas aushaltbarer macht.
Nach Ridge wird Ash aufgerufen und dann Phandriel. „Caelan Merandell!" Sobald mein Name aufgerufen wird, schlägt mir mein Herz plötzlich bis zum Hals. Diesmal übermannen mich nicht fremde Emotionen, sondern meine ganz eigenen. Hastig springe ich auf und will schon losgehen, als mir auffällt, dass ich Lilians Fesseln immer noch umklammere. Schnell reiche ich den Strick Phan, welcher mir ein aufmunterndes Lächeln zuwirft, und gehe nach vorne.
Als ich zwischen die Säulen trete und mich der scharfe Blick von Ridges Vater trifft, bemerke ich, dass ich vor Aufregung fast gerannt bin und verlangsame meinen Schritt.
‚Niemand weiß, dass du ein Schwarzblut bist', wiederhole ich ständig in meinem Kopf, während ich an das Auge der Götter herantrete. Mein Herz hämmert so heftig gegen meine Brust, dass ich schon befürchte, jemand könnte es hören. Doch ich rede mir ein, dass das unmöglich ist.
Eine Nadel, lang und spitz, ragt aus dem Boden der Schale im Auge der Götter. Das Licht des Vollmonds verfängt sich in ihrem makellosen Metall. Die Nadel sieht aus, als wäre sie seit Jahrtausenden unberührt. Wohin das Blut der anderen Anwärter verschwunden ist, kann ich mir nicht erklären.
Mein Puls dröhnt mir so laut in den Ohren, dass er selbst den rauschenden Fluss übertönt. Ich strecke meine Hand in Richtung der Nadel. Noch bevor ich meinen Mut zusammenraffen kann, geht ein Zittern durch meinen Körper. Die kalte Spitze der Nadel berührt kaum meinen Finger, doch ich spüre sofort einen scharfen Schmerz durch meinen gesamten Körper zucken. Ein Tropfen schwarzes Blut tanzt einen Wimpernschlag lang auf der Nadelspitze, bevor er gleichmäßig das gesamte Metall benetzt.
Mein Mund wird trocken, als einen Moment lang nichts geschieht. Dann jedoch flackert der Amethyst im Boden kurz, bevor er mich schließlich in tief violettes Licht taucht.
Ein Stein fällt mir vom Herzen. Die ganze Aufnahmeprüfung lang habe ich befürchtet, Lessuro würde sich nicht zu mir bekennen, wegen meines schwarzen Blutes. Doch all meine Sorgen waren unbegründet. Der Amethyst hat geleuchtet. Lessuro hat sich zu mir bekannt. Nun hat niemand mehr ein Argument für meinen Tod. Wenn selbst Lessuro mich anerkennt, dann müssen sie es auch tun.
Ich kehre zur Tribüne zurück, mein Herz hämmert mir zwar noch immer wild gegen die Brust, doch die Erleichterung übertönt in diesem Moment alles andere. Phan drückt mir wieder Lilians Strick in die Hand und klopft mir anerkennend auf die Schulter.
Phandriel ist der Einzige, der von meiner Sorge wusste. Zeran hätte meine Angst nur genossen, Ridge hätte mich damit aufgezogen und Ash hätte wahrscheinlich gesagt, dass meine Sorgen berechtigt sind. Deshalb habe ich nur einmal mit Phan darüber gesprochen.
Nach uns sind noch viele weitere Anwärter an der Reihe, aber zum Glück besitzen alle von ihnen eine Gabe, weshalb es zu keinen weiteren Toden kommt.
Lilian, die zwischen mir und Phan sitzt, wird mit jedem Anwärter panischer. Ihre Gefühle sind so intensiv, dass ich sie andauernd spüre und mich darauf konzentrieren muss, jede Emotionen abzustoßen und nicht aufzunehmen.
„Ich beglückwünsche euch: Ihr habt das Blutritual alle bestanden", hemmungsloser Jubel bricht aus, als der General kurz innehält. „Ruhe!", zerfetzt General Revinger das Tosen, „Freuen könnt ihr euch, wenn ihr wirklich etwas geleistet habt!" Er macht eine Pause, wartet, ob jeder seinem Befehl folge leistet. „Jeder Initiant folgt nun seinem General. Mit den Booten werdet ihr zu den Schiffen fahren; morgen früh brechen wir nach Salarya auf. Die Mynua halten sich an Kommandant Ferlon, er wird euch zum Schiff bringen."
Nachdem General Revinger seine Ansprache beendet, beginnen die Generäle der anderen Clans wild durcheinander zu rufen. Sie befehlen ihren Initianten, aufzustehen und mitzukommen. Während sich jeder an seine Mitinitianten hält und den Generälen folgt, kommt General Revinger mit Sophos Alvon auf uns zu.
Sie bleiben stumm neben uns stehen, bis ein Clan nach dem anderen die Insel über die massiven Steinbrücken verlässt.
Erst sobald wir völlig allein sind, spricht Ridges Vater wieder. „Ihr glaubt also, dass dieses Mädchen eine Gabe von Silva erhalten hat?", stellt er klar, so als würde er glauben, es sei ein Scherz von uns. Doch niemand von uns macht sich aus dieser Sache einen Spaß, nicht einmal Ridge – aber der bekommt seinen Mund vor seinem Vater ohnehin nicht auf. „Sie haben mich schon richtig verstanden, General", erwidert Zeran mit so ernster Miene, dass Sophos Alvon überrascht einen Schritt zurück macht. „Das ist unmöglich", haucht dieser mit weit aufgerissenen Augen, während er Lilian entgeistert anstarrt.
„Davon wäre ich auch ausgegangen, Sophos. Aber diese Initianten", er betont den Titel, um uns noch einmal zu zeigen, wo unser Platz ist, „behaupten etwas anderes. Und da es einen einfachen Weg gibt, um es herauszufinden, probieren wir es einfach aus."
DU LIEST GERADE
Das letzte Juwel - die Chroniken von Krynia
Fantasy„Ich werde der erste König, der ganz Krynia vereint", erklärt er mit vor Stolz angeschwollener Brust. Dann senkt er seinen Blick und sieht mich direkt an, so als wäre ich ein Schatz, den er keinesfalls verlieren will. ‚Wir werden noch eine Menge Spa...