Kapitel 6

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Die Tage ziehen an mir vorbei, wie flackernde Augenblicke. Zuerst geht die Sonne einmal auf, dann ein zweites Mal und irgendwann ist sie so oft aufgegangen, dass ich jegliche Hoffnung verloren habe. Würde ich nicht mitzählen, hätte ich kein Gefühl von Zeit mehr. Jeder Moment vergeht so quälend langsam, während ich einfach nur sitze und nichts anderes tun kann, als mir Gedanken zu machen. Und auch diese sind so schmerzhaft, dass ich mich davon befreien würde, wenn ich nur könnte. Die Gesichter meiner Familie verfolgen mich wie Geister, die jedes Mal, wenn sie wiederkommen, etwas ausgehungerter aussehen als zuvor. Seit sieben Tagen geht das so. Meine Entführer geben mir zu essen und zu trinken und halten mich so am Leben, aber es kommt mir nicht so vor, als würde ich noch leben. Ich bin selbst nur ein Geist, dessen Körper hier gefangen ist. Die Männer, die in regelmäßigen Abständen von Deck heruntersteigen und durch die Tür gegenüber von mir verschwinden, beachten mich kaum. Vielleicht ist das auch besser, denn sie wirken nicht so, als wären sie eine gute Gesellschaft. Jeder von ihnen ist kräftig gebaut, sie haben raue, laute Stimmen, und bis auf den Hauptmann und einen weiteren Mann sind die meisten auch etwas älter. Die Fürstin ist mir, seitdem sie mich im Zelt befragt hat, nicht mehr begegnet und auch der Kommandant mit den roten Haaren schenkt mir zum Glück keine Beachtung mehr. Seit mir der Hauptmann eröffnet hat, dass wir nach Ostorm segeln, kreisen meine Gedanken nur noch darum. Auf Märkten habe ich öfter Karten von ganz Krynia gesehen; Ostorm ist eine Insel im Nordosten. Sie wird von vielen auch Sturminsel genannt, nicht nur, weil dort andauernd Stürme sind, sondern auch wegen der Kräfte der Obritari Clanmitglieder. Ihre Macht kommt von Empesta, der Göttin des Sturms, die die Macht über das Wetter innehat. In den Geschichten meines Großvaters konnten die Obritari Stürme herbeirufen und zurückhalten, manche von ihnen konnten es auch so lange regnen lassen, bis ganze Städte überschwemmt waren. Aber auch hier kann ich nicht sagen, wie viel Wahrheit in dieser Geschichte steckt. Die Obritari besitzen zwar die Macht von Empesta, doch wie groß ist ihre Kraft? Könnten sie es wirklich so lange regnen lassen, bis eine Stadt untergeht? Und was haben sie in Grakok gemacht? Wenn ich die Fürstin richtig verstanden habe und es um einen Krieg geht, dann stellt sich die Frage, wen sie angreifen wollen. Vielleicht waren sie in Grakok, um die Skauk auszuspionieren, oder aber, sie haben sich mit den Skauk zusammengeschlossen, um gegen den König zu kämpfen. Wenn letzteres der Fall wäre, dann würden sie uns alle ins Elend stürzen. Unter dem König sind fünf Clans vereint; die Skauk und die Obritari müssten sich gegen drei andere Clans verteidigen. Falls die Skauk in den Krieg ziehen würden, müsste auch mein Vater und im schlimmsten Fall sogar Juriso in der Armee kämpfen. Entweder für den König oder die Skauk, abhängig davon, wer zuerst bei uns Zuhause auftauchen würde.So sehr in meine Gedanken vertieft, realisiere ich gar nicht, dass plötzlich der Hauptmann vor mir steht. Wie immer bringt er mir eine Scheibe Brot, Trockenfleisch und einen vollen Bota. Zuerst löst er das Seil um meine Hände. Jedes Mal, wenn ich mich plötzlich wieder bewegen kann, fühlt sich mein Körper noch etwas verkrampfter an als am Tag zuvor. Während ich mir gierig das Essen in den Mund stopfe, starrt mich der Kommandant die ganze Zeit an. So als würde er befürchten, ich würde fliehen, wenn er mich nur einen Wimpernschlag lang aus den Augen lässt. Sobald ich fertig bin, muss mir der Hauptmann nicht einmal sagen, dass ich meine Hände hinter dem Rücken zusammenhalten soll; ich mache es mittlerweile sogar von selbst. „Aufstehen", befiehlt er mir plötzlich und für einen kurzen Moment kann ich nichts tun, als ihn entgeistert anzustarren. Sind wir etwa schon angekommen? „Wie... Aber was, warum?", stottere ich. „Komm, steh auf. Du willst doch nicht die ganze Fahrt über hier unten bleiben, oder?" Seine Stimme wird weicher, ebenso wie seine Züge. Ein schmales, kaum sichtbares Lächeln liegt auf seinen Lippen, als ich mich langsam erhebe. Meine Beine sind zittrig und der schwankende Boden unter mir macht es mir schwer, gerade stehenzubleiben. Beim Hauptmann oder den anderen sieht es immer viel einfacher aus, so als würden sie an Land sein, aber für mich scheint es fast unmöglich, länger auf einem Punkt stehenzubleiben. Der Hauptmann gehrt voran und ich versuche ihm so gut es geht zu folgen. Wir steigen die steilen Stufen nach oben. Helles Licht begrüßt uns dort und ich muss mir die Hand über die Augen halten, um noch etwas zu sehen. Wind zieht an den Haarsträhnen, die sich aus meinem Zopf gelöst haben. Über uns ist der Himmel hellblau, die Sonne scheint ungnädig auf uns herunter, während die frische Luft eine angenehme Abkühlung bietet. Die riesigen, cremefarbenen Segel sind weit aufgespannt und ich kann sehen, wie der Wind sich in ihnen verfängt und uns über das endlose Wasser schiebt. Um uns herum befindet sich nichts als der Ozean. Egal in welche Richtung ich schaue, ich sehe nur tiefblaues Wasser, das sich unter den Bewegungen des Schiffs kräuselt. Das Meer ist unruhig. Wellen schlagen gegen die hölzerne Fassade und werden dann zu weißem Schaum, der sich kurz an der Oberfläche hält und dann wieder verschwindet. Fasziniert beuge ich mich über die Reling, doch sofort schießt eine Hand nach vorn und packt den Stoff meines Kleides. Der Hauptmann zieht mich behutsam, aber mit Nachdruck zurück. „Du warst noch nie auf einem Schiff", stellt er fest und mustert mich kurz, „wenn eine Welle kommt, dann landest du schneller im Wasser, als du glaubst." Hastig nicke ich und werfe einen letzten Blick auf den endlosen Ozean. „Von hier aus arbeitest du dich bis ganz ans Ende des Schiffs", der Hauptmann deutet zur Rückseite, die wie die Vorderseite ebenfalls etwas erhöht ist. Von hier aus hat man eine beeindruckende Aussicht über das Meer. Wenn das Schiff ausblendet und geradewegs nach vorne blickt, könnte man meinen, man ist ganz allein hier. Der Hauptmann drückt mir den Wischmopp in die Hand, mit dem ich das Deck schrubben soll. „Dass du heute den Boden schrubben darfst, war schwierig genug durchzusetzen. Wenn du also irgendetwas anstellst, dann ist es auch das letzte Mal gewesen", warnt er mich, „und falls dieser Sturm näher kommt, dann warte vor den Treppen auf mich." Er zeigt mit seiner Hand auf die dunklen Wolken, die sich in weiter Entfernung sammeln. Verwirrt blicke ich ihn an. „Warum? Ihr könnt das Wetter doch steuern." Die Worte verlassen meinen Mund, bevor ich darüber nachgedacht habe. Vielleicht wäre es besser gewesen, das für mich zu behalten. Vielleicht würde mich der Fürst gehen lassen, wenn ich ihn überzeuge, dass ich von nichts weiß. Aber um ehrlich zu sein, glaube ich nicht wirklich daran. „Das können wir", bestätigt er, „aber wir sind in der Nähe von Baleros. Die Stürme hier entstehen nicht natürlich, sie bestehen aus wilder, göttlicher Magie. Einen solchen Sturm kann man nicht kontrollieren. Nicht einmal wir." Ich sauge jedes seiner Worte gierig auf. Jede Information, die er mir gibt, wird mir irgendwann helfen, einen Weg aus dieser Lage zu finden. Der Hauptmann wünscht mir noch gute Arbeit und lässt mich dann auf dem Vorderdeck allein. Für einen kurzen Moment sehe ich mich noch um, versuche am Horizont eine Insel zu erkennen, doch soweit ich blicken kann, befindet sich nur blaues Wasser. Ich beginne damit, das Deck zu schrubben. Meine Muskeln schmerzen bei jeder Bewegung, aber es tut auch gut, mich endlich wieder etwas bewegen zu können. Währenddessen suche ich in meinen Gedanken nach allen Informationen, die ich über Baleros habe. Baleros ist die Götterinsel. So nannte sie jedenfalls mein Großvater immer. Laut ihm ist die Insel der Ursprung von allem; von dort aus hat jeder Gott einen Teil unserer Welt geschaffen und nach seinen Vorstellungen geformt. Und die Aussagen des Hauptmannes scheinen damit übereinzustimmen. Ich erledige meine Arbeit langsam, aber gründlich. Selbstverständlich könnte ich auch schneller sein, aber was hätte ich davon? Ich würde früher oder später eh wieder gefangen unter Deck sein, da ziehe ich den Moment lieber hinaus. Während ich meine Arbeit mache, fokussiere ich mich mehr darauf, was um mich herum geschieht, als auf den Boden, den ich schrubben soll. Doch viel kann ich aus meinem Umfeld nicht ziehen. Die Männer sprechen nicht über den angeblichen Krieg oder über mich, meistens werden Befehle gerufen und dann ändern sie etwas an den Segeln. Ich spüre, wie sie mich immer wieder kritisch beobachten, wenn gerade nichts zu tun ist, aber ich lasse mich davon nicht beirren. Wegen des schwankenden Bodens taumele ich immer wieder, aber es stört mich nicht. Auf eine seltsame Weise finde ich es sogar beruhigend, so als würde mich meine Mutter in ihren Armen hin und her wiegen. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, langsam zu sein, habe ich das Deck irgendwann komplett geschrubbt. Schwer atmend und müde gehe ich in Richtung der Treppe. Hauptmann Horras steht mit einem anderen Mann zusammen, der, wie er, etwas weichere Züge hat, mich aber bisher noch nie wirklich angesehen hat. Ohne dass ich ihn auf mich aufmerksam mache, geht er sofort auf mich zu und nimmt mir den Eimer und Wischmopp ab. Er führt mich unter Deck und gibt mir sogar noch eine Scheibe Brot und Wasser. Am liebsten hätte ich ihn nach dem Krieg gefragt, doch das wagte ich nicht. Vielleicht würde ich es noch tun, aber jetzt ist noch nicht der Moment dafür.

Das letzte Juwel - die Chroniken von KryniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt