Kapitel 2

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Kapitel 2

Ella

Seit vielen Stunden liege ich jetzt schon wach. Wie verloren fühle ich mich in meinem neuen Zuhause, unfähig, der Versuchung des Schlafes zu erliegen. Jeder Winkel scheint noch fremd, jedes Geräusch ungewohnt. Weder die behagliche Dunkelheit noch die sanften Rhythmen der nächtlichen Geräuschkulisse können mich in den Schlaf wiegen. Erschöpft und doch hellwach, ringe ich um Ruhe, kämpfe ich gegen die aufkeimende Unruhe in mir. Die Hoffnung, doch noch schlafen zu können, hält mich fest. Sie klammert sich an mich wie ein angespannter Lebensanker. Ein Seefahrer visiert das Festland an. Er hat zuvor einen harten Kampf mit dem Sturm ausgefochten. Genauso suche ich die Erholung, die nur der Schlaf bieten kann. Ich sehne mich danach, mich seiner umhüllenden Dunkelheit hinzugeben. Ich möchte mich in seinen sanften Armen fallen lassen. So kann ich neue Kraft für den kommenden Tag sammeln. Der Tagesanbruch lässt nicht auf sich warten; die aufgehende Sonne kündigt die Ankunft eines neuen Tages an. Es wird langsam hell draußen, Lichtstrahlen dringen durch die Ritzen der Vorhänge und schaffen es, mein Bett zu erreichen. Mit einem tiefen Atemzug entscheide ich mich, aufzustehen. Ich mache mich fertig, ziehe mein Lieblingskleid an, dass meine Mutter so verabscheut. Es passt mir perfekt, schmeichelt meiner Figur und bringt meine Augen zum Leuchten. Doch es ist nicht die Ästhetik des Kleides, die meine Mutter hasst. Es ist die Erinnerung daran, dass es ein Geschenk meines Vaters war. Ich gehe in die Küche, um zu frühstücken. Ich setze mich mit einer dampfenden Tasse Kaffee an den Esstisch. Ich schaue aus dem Fenster, etwas, was ich oft mache. Über die Monate hat sich dies zu meiner Lieblingsbeschäftigung entwickelt. Da draußen gibt es so viel zu beobachten, und alles scheint interessanter zu sein als mein eigenes Leben. Plötzlich setzt sich einer der Jungs mit seinem eignen Kaffee zu mir. Ich bin mir nicht sicher, wer er ist – Braden oder Drake. Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Welt draußen richte. Wenn er nicht das Bedürfnis hat, zu reden, dann werde ich auch meine Ruhe bewahren. In meiner Stille finde ich einen seltsamen Frieden, eine Art Flucht vor der Realität, die mich manchmal überwältigt. Ich umgebe mich mit meinen Gedanken, mit meinen Gefühlen, die tief in meinem Herzen verankert sind. Meine Mutter lacht. Ihr Lachen hallt durch das Haus. Es durchdringt das dichte Holz der Küchentür. Der Raum wird von ihrer Lebensfreude geflutet. Ella, mein Schatz, wie geht es dir? Wie hast du geschlafen? Ihre Stimme ist wie eine warme Decke, ein ständiger Anker inmitten des chaotischen Alltags. Doch unter der Tischplatte, dort, wo ihr Blick mich nicht erreicht, bilden meine Hände feste Fäuste. Die weißen Knöchel zeichnen sich deutlich von meiner bleichen Haut ab. Jeremys Sohn, der seinen Kopf zu mir gedreht hat, bemerkt es. Unspezifische Angst vermischt sich mit Scham und schlägt Wellen in meinem Magen. Ja, es geht, murmele ich, bemüht, meine Worte durch ein gezwungenes Lächeln zu sieben. Ich muss mich nur noch gewöhnen. Es ist es ist etwas anderes. In meinem Inneren liegt ein stummer Schrei. Eine Bitte besteht darin, dass sie es nicht sieht. Dass sie nicht versteht, was ich so sehr zu verbergen versuche. Drake, hallo. Geht es dir gut? Zärtlich beugt sie sich zu ihm, gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Ich beobachte das Ganze, gefangen zwischen Entsetzen und Schock. Drake jedoch bleibt still, antwortet nicht, als ob er eine unsichtbare Mauer um sich errichtet hätte. Was verbirgt er? Warum mag er sie nicht oder ist er einfach so? Ich entspanne mich wieder, atme tief durch, als sie ihr Gespräch am Telefon fortsetzt. Kann sie wirklich nicht sehen, dass wir uns verlieren? Oder ist sie zu beschäftigt, glücklich zu sein, um die Stürme zu sehen, die in uns wüten? Ich schnappte meine Tasse und spülte sie ab. Das eintönige Geräusch des Wassers, das auf das Porzellan trifft, schien meine Gedanken zu beruhigen. Ich blickte umher. In der Küche fehlte ein wichtiges Detail. Meine Mutter. Sie war nirgendwo zu finden. Ist meine Mutter immer so nett? Diese Frage schien in der Stille der Küche zu hängen. Drake, meine einzige Gesellschaft, gab keine Antwort. Er saß einfach da, seine wunderschönen grünen Augen starrten mich an, aber sie boten keine Antwort. Seine stille Präsenz war sowohl beruhigend als auch frustrierend. Plötzlich stand Barden im Türrahmen. Mit seiner lässigen Haltung und seinem schiefen Grinsen war er das genaue Gegenteil meiner gegenwärtigen Verzweiflung. Ja, das ist sie. Nervt, nicht wahr?, sagte er. Seine Worte fielen wie ein Hammerschlag. Sie bestätigten, meine Befürchtungen, rissen alte Wunden auf. Die Kühle seiner Worte lähmte mich. Mein Blick war starr auf ihn gerichtet. Tränen bildeten sich in meinen Augen, bauten eine Mauer aus Wasser und Traurigkeit. Ich konnte es nicht verstehen. Sie war so nett zu anderen, doch warum nicht zu mir? Was hatte ich getan, um ihre Kälte zu verdienen? Diese Frage nagte an mir. Sie grub sich tief in mein Herz. Sie ließ mich mit einer schmerzhaften Leere zurück. Ich rannte in mein Zimmer. Wie von einer unsichtbaren Macht geführt, zog es mich hinaus auf den Balkon. Die kalte Morgenluft umhüllte mich sofort, ihr eisiger Griff durchdrang meine Kleidung. Ich hatte keine Jacke angezogen, doch das machte mir nichts aus. Ganz im Gegenteil: Ich benötigte diese Kälte, dieses durchdringende Gefühl, das mir bis in die Knochen fuhr. Es war ein Zeichen dafür, dass ich lebte, dass ich noch spürte. Der Sessel auf dem Balkon wirkte wie eine Insel. Er stand inmitten der Ödnis, die sich unter mir erstreckte. Ich setzte mich nieder. Dann blickte ich hinunter auf die schlafende Landschaft. Dabei konnte ich nicht umhin, an meinen Vater zu denken. Wo war er? Warum war er nicht bei uns? Was war mit ihm geschehen? Meine Mutter sprach nie über ihn, sie erzählte mir nicht einmal, wie ich ihn finden könnte. Ich dachte zurück an die Zeit in der Klinik. Dieser kalte, steril wirkende Ort, ein unerwünschtes Zuhause, das ich für einige Zeit annehmen musste. Er hatte mich nie besucht. Vielleicht wusste er nicht einmal, dass ich dort war. Hatte meine Mutter ihm überhaupt erzählt, wo ich war? Wo wir waren? Diese Fragen schwirrten in meinem Kopf herum, ein unaufhörlicher Strom voller Zweifel und Unwissenheit. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand ich auf, ging wieder in mein Zimmer und schloss die Balkontür. Ein Blick in das fast leere Zimmer war genug, um zu wissen, dass ich hier nicht viel tun konnte. Ich hatte weder einen Laptop noch ein Telefon, ich war abgeschnitten von der Außenwelt. Doch da war eine Idee, ein Hauch von Hoffnung. Vielleicht hatte meine Mutter noch mein altes Telefon. Ich würde sie danach fragen müssen. Und ich konnte nur hoffen, dass sie es noch hatte. Also, tief einatmend, entschied ich mich, ihr gegenüberzutreten. Im Wohnzimmer tobte das Leben. Sie sprach mit Braden. Ich konnte kaum atmen, die Worte kamen raus, bevor ich es verhindern konnte: Mama, hast du mein altes Telefon noch, oder mein Laptop? Beide drehten sich abrupt um, ihre Augen auf mich gerichtet, ihr Blick schockiert. Ein Gefühl der Bedrohlichkeit füllte den Raum, als hätte ich eine unerwünschte Wahrheit ausgesprochen. Wieso hast du kein Telefon?, verlangte Braden eine Erklärung. Ich fühlte, wie mein Herz in meiner Brust stolperte. Oh nein, was hatte ich gemacht? Meine Lippen öffneten sich, um die Situation zu erklären, aber die Worte kamen nicht. Sie übernahm, ihre Stimme war kalt und scharf, Es war verboten im Internat. Sie log. Sie log, aber wer würde ihr nicht glauben? Ja, ich habe sie noch. Ich bringe sie dir später auf dein Zimmer, sagte sie mit einer eindeutigen Stimme. Aber in meinen Ohren hallte ihre Zusage nur als leeres Versprechen wider. Ich drehte mich um und verließ den Raum, jede Faser meines Seins zitterte. Sie lügt, der Gedanke hallte in meinem Kopf wider, sie lügt und eines Tages wird alles auffliegen. Eines Tages Ich wartete und wartete, eingehüllt in die flüchtige Hoffnung, dass sie doch alles zu mir bringen würde. Es waren bereits mehrere Stunden vergangen. Eine Ewigkeit schien vorüberzuziehen. Jede Sekunde fühlte sich an, als würde ein tropfender Wasserhahn auf meine Geduld einschlagen. Schließlich kam sie herein, einen Karton tragend wie eine Friedenstaube ihr Olivenzweig. Hier hast du es, sagte sie und ich nahm ihn mit einem angehaltenen Lächeln entgegen. Tu nicht so, als ob du dich geändert hättest, warnte sie mich mit einer eisigen Strenge in den Augen. Ich weiß, dass du nur so spielst. Ich kenne dich. Du bist meine Tochter, aber mache nicht den Fehler zu glauben, dass du nicht wieder dort eingesperrt werden könntest. Hast du das verstanden? Ich nickte nur. Worte wären nutzlos gewesen. Diskussionen mit ihr endeten stets in Streit. Sie zeigte ihre Sanftheit nur, wenn andere Zeugen anwesend waren. Genau wie in der Klinik. Lisa war ständig dabei, ein stummer Zeuge unserer heuchlerischen Familienspiele. Sie spielte die liebende Mutter so überzeugend, dass ich es ihr manchmal beinahe abkaufte. Aber nur beinahe. Denn tiefer drinnen wusste ich, wie gut sie dieses Spiel spielen konnte. Sofort schloss ich die Ladekabel an, um keine Zeit zu vergeuden. Schaltete das Telefon ein mehrere hunderte Telefone anrufe in Abwesenheit. Am Laptop war das E-Mail-Postfach voll. Ich tippe in der suchleiste die Namen meiner Freundinnen. Da es mir keine Ruhe gibt, ich sehe immer Jenny die geschlagen wird in meinen Träumen. Ich sehe genauer hin und da stehen ihre Namen. Isabell wird vermisst, Jenny ermordet im Wald gefunden. Meine Atmung geht schneller, das Herz klingt wie ein wild gewordener Trommler in meiner Brust. In Jennys Bericht stand, sie sei ausgeraubt und vergewaltigt worden. Bei jeder Silbe von vergewaltigt fühlt es sich an, als ob jemand meinen Magen verknotet. Mit Tränen in den Augen sitze ich vor meinem Laptop. Die Tastatur ist durch den feuchten Schleier verschwommen, der sich vor meinen Augen zusammenbraut. Jeder Buchstabe, jedes Wort, das ich tippe, ist ein Nachhall des Schmerzes, der Verzweiflung. Isabell zählt als vermisst. Wie konnte das passieren? Wie konnte etwas so Schreckliches passieren, rationalisiere ich, versuche es zu verstehen. Aber mein Verstand weigert sich, es zu begreifen, weigert sich, diese schreckliche Realität zu akzeptieren. Es fühlt sich an, als würde ich in einem Albtraum stecken, aus dem ich nicht erwachen kann. Es wurde nichts gefunden, heißt es. Keine Hinweise, keine Verdächtigen, nichts. Alles wurde vertuscht. Jeder Versuch, das zu durchschauen, fühlt sich an wie der Versuch, Nebel mit den Händen zu packen. Es entgleitet mir immer wieder, lässt mich leer und verwirrt zurück. Wer hat das getan? Wer von uns stand im Weg? In wessen kranker Fantasie sind wir zu Zielen geworden, zu Opfern? Jedes Mal, wenn ich die Fragen stelle, erhalte ich keine Antworten. Nichts als das sanfte Murmeln meiner Stimme, als würde sie gegen die Wände meiner Gedanken prallen – ein stetiges Echo in den Tiefen meines Verstands. Nacht für Nacht begleiten mich die Träume, unerbetene Gäste, die immer wieder die Bilder von Jenny und Isabell vor meinem inneren Auge entfalten. Doch ich weiß, ich darf es nicht zulassen, dass diese Schatten mich erstarren lassen. Es ist Zeit zu handeln, für das Recht, für die Wahrheit – für meine Freundinnen, für Isabell und Jenny. Mit einer zarten Geste wische ich die letzten Tränen fort, hole einmal tief Luft und lasse sie dann langsam entweichen. Kraft sammelnd und von neuem Mut getragen starte ich die Suchmaschine erneut. Diesmal tippe ich die Daten, die Ortsangaben mit mehr Sorgfalt und einer noch nie dagewesenen Entschlossenheit ein. Die Hoffnung in meinem Herzen beginnt zu leuchten wie ein unerschütterliches Licht der Zuversicht. Ich werde keine Ruhe geben. Ich werde mich nicht geschlagen geben. Nicht heute. Nicht morgen. Heute setze ich das Zeichen, und zeige der Welt, dass die Freude, die wir einmal teilten, die Erinnerungen an Jenny und Isabell stärker sind als jede Dunkelheit. So sitze ich hier, und tippe unermüdlich weiter. Die Tasten sind meine Verbündeten auf dieser Queste, und ich weiß – irgendwo da draußen wartet die Antwort darauf, geduldig darauf, entdeckt zu werden. Meine Finger bewegen sich rhythmisch, als würden sie zu einer fröhlichen Melodie tanzen, die nur ich hören kann. Es ist die Melodie der Hoffnung, der unerschrockenen Entschlossenheit, die in jedem von uns lebendig wird, wenn wir für das kämpfen, was uns am Herzen liegt.

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