Gefunden und gerettet

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Man fand ihn in einer Seitengasse. Eine junge Frau, die eigentlich nach Hause wollte und dort wohnte, sah ihn von weiten liegen. Sie dachte an eine achtlos weggeworfene Schaufensterpuppe und ging neugierig näher an den leblosen Körper heran.
„Oh mein Gott!“, entfuhr es ihr, als sie die Blutlache sah, in der er lag.
Sie berührte ihn vorsichtig, doch er regte sich nicht. Tiefe Wunden zogen sich über seine Handgelenke, aus denen noch immer das Blut mit jedem Herzschlag herausquoll . Eine Scherbe einer zerbrochenen Fensterscheibe hielt er noch in der Hand. Die schärfste Kante war blutgetränkt. Voller Mitleid kniete sie sich neben ihn nieder. Sie riss Teile ihres Unterrocks auseinander und verband seine Handgelenke, während sie leise wisperte: „Was ist dir nur wiederfahren, das du keinen Ausweg mehr gesehen hast?“
Sie nahm ihr Handy und wählte den Notruf während sie sanft seine Wange streichelte und ihn näher betrachtete. Seine schwarzen Haare gingen bis zu den Schultern und waren nach hinten gekämmt, er hatte ein fein geschnittenes Gesicht und hohe Wangenknochen. Sein Gesicht strahlte Männlichkeit  aus und doch war da etwas weiches, sanftes, feminines, was ihn sehr attraktiv machte und sie fragte sich, wie so jemand in eine solch tiefe Verzweiflung stürzen konnte.
Er trug einen  grünen Pulli, eine schwarze Hose mit goldenen Verzierungen und machte auch nicht den Eindruck, als würde er auf der  Straße leben. Er sah sehr gepflegt aus. Daran konnte es also auch nicht liegen.
In der Ferne hörte sie die Sirenen, die schnell näher kamen.
Als der Rettungswagen endlich da war und die Sanitäter und der Notarzt  sich um ihn kümmerten, brach es ihr fast das Herz. Seine Wunden waren so tief, das selbst die Rettungskräfte scharf die Luft einzogen. Sein Herz schlug langsam und schwach, sein Atem ging sehr flach, die Rettungskräfte versuchten alles, um ihn einigermaßen stabil zu bekommen und es dauerte eine halbe Ewigkeit, zumindest kam es ihr so vor. Seine Handgelenke wurden mit einem Druckverband verbunden und hoch gelagert, es wurde eine Infusion gelegt, seine Beine legten sie   auf eine Art Rolle und hüllten ihn in eine Rettungsdeckel. Die Verpackungen vom Verbandsmaterial lagen herum, blutgetränkt. Tränen traten in  ihre Augen, als einer der Rettungskräfte meinte:
“Wenn der das schafft haben wir unverschämtes Glück!“
„Himmel!“, dachte sie und die Tränen rollten über ihre Wangen.
Er sah aus wie ein Engel, er konnte doch nicht einfach so sterben! Sie hatte ihn doch gefunden! Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, zu ihren Göttern. Sie ging die ganze Liste durch: Sie bettelte Odin an, flehte Frigg, an, betete zu Thor und erstarrte plötzlich.
Nein, sie musste sich irren! Noch einmal sah sie ihn an. Mittlerweile hatte er eine Atemmaske auf, damit er besser atmete. Sie kreischte auf:
„Oh mein Gott!“
Die Rettungskräfte schauten sie überrascht an:
„Kennen sie diese Person?“
Sie schaute verwirrt und stotterte:
„Ich….Ja…..also nein……..eigentlich ja…….ich meine……es ist kompliziert…….“
Die Rettungskräfte sahen sie mittleidig an und vermuteten, das dieser junge Mann vielleicht ein erstes Date, eine gescheiterte und neu entflammte Beziehung oder ähnliches war . Einer der Sanitäter kam auf sie zu und legte sanft seine Hand auf ihre Schulter:
„Das ist wahrscheinlich nicht einfach für Sie. Wir geben unser Bestes, damit er durchkommt, versprochen. Wenn Sie möchten, können Sie Ihren Freund mit ins Krankenhaus begleiten.“
Sie schaute den Sanitäter stirnrunzelnd an:
„Mein…..Fr…?“
Sie wusste nicht, ob es richtig war, was sie nun tat, aber er war so wunderschön und ihn  dort so liegen zu sehen, zu sehen, was er sich angetan hatte, zu ahnen, das er wahrscheinlich niemanden hatte, der sich um ihn sorgte, ließ ihr Herz  in tiefe Trauer versinken und sie konnte nicht anders:
„ Ja…..natürlich……ich würde meinen Freund sehr gern mit ins Krankenhaus begleiten. Ich mache mir wahnsinnige Sorgen um ihn.“
Der Sanitäter nickte verständnisvoll während der Notarzt und der andere Sanitäter den Mann auf eine Liege hievten und zum Krankenwagen brachten.
Als sie dazu stieg rannen heiße Tränen über ihre Wangen. Sie kannte diesen Mann eigentlich garnicht. Und sie konnte sich irren, aber was, wenn nicht? Und warum war er hier, wenn es der war, den sie vermutete? Himmel, was musste nur geschehen sein?
Mit Blaulicht und Sirene ging es in einem halsbrecherischen Tempo in die nächste Klinik. Der Monitor der Überwachung piepste  und die Rettungskräfte meldeten sich in der Klinik direkt in der Intensivstation an, mit dem, was sie im Auto hatten:
Mann um die 25, bewusstlos, aufgeschnittene Pulsadern, hoher Blutverlust.
Sie hörte, wie sie ihn in der Klinik anmeldeten und wie einer zum anderen sagte:
„Wenn man ihn wieder auf die Beine bekommen hat, wird er wahrscheinlich eingeliefert in die Psychiatrie.“
Sie erschrak und wurde blass:
„Nein, bitte nicht! Ich passe auf ihn auf! Ich pflege ihn, versprochen!
Der Sanitäter schaute sie an mit einem Blick, als würde er sie trösten wollen und sagte:
„Das haben wir leider nicht zu entscheiden, ob Sie das dürfen. Ich glaube, dazu muss der Psychiater erst das OK geben, das Ihr Freund mit zu Ihnen darf.“

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