Kapitel 36: Drache, Falke, Krähe, Spatz

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Sie war bereits gespannt, was der Rabe zu vermelden hatte, vor allem, weil es um den Norden ging. Als sie die Nachricht ausrollte, las sie, dass Stannis Baratheon mit insgesamt etwa 3000 Mann von der Mauer nach Winterfell marschierte, mit dem Ziel, Winterfell von den Boltons zurückzuerobern.

Während eine solche Nachricht wohl eigentlich Hoffnung versprühen sollte, betrachte Lyanna diese Entwicklung eher pessimistisch. Zu oft musste sie Maester Luwin damals zuhören, wie er über die Mannesstärke der verschiedenen Häuser des Nordens referierte. Immerhin aber oft genug, um zu wissen, dass Stannis 3000 Mann niemals ausreichen würden, um die Boltons zu besiegen. Selbst wenn er es im offenen Feld schaffen würde, könnte Winterfell selbst in den unerbittlichen Temperaturen des Winters einer Belagerung zu lange standhalten. Außerdem würden die Nordmänner nie einen Südländer als Lord dulden. Stannis Ansinnen war demnach zwar nobel, aber dumm, wie Lyanna schnell bemerkte.

Der Maester setzte seine Führung fort. Er brachte Lyanna durch endlos scheinende Marmorgalerien und Arkadenhöfe zu allen wichtigen Orten, über und unter der Erdoberfläche. Denn während die Gemächer der wichtigsten Burgbewohner unter anderem in die Höhe gebaut wurden, befanden sich unzählige Schlafquartiere, Säle, und sonstige Räume im Berg selbst. Sogar einen kleinen, aber völlig funktionsfähigen Hafen hatte man in den Stein geschlagen. Kein Wunder also, dass Casterlystein nach Harrenhall die größte Burg der Sieben Königslande war. Der Maester endete die Besichtigungstour bei den Gemächern der Lady von Casterlystein, die nun Lyanna gehörten. Dort versprach er ihr, morgen früh auf sie zu warten, um mit ihr Verwaltungsangelegenheiten zu besprechen. Lyanna hatte an diesem Tag nämlich keine Ohren mehr dafür. Die Reise war anstrengend genug.

Als sie die Tür zu ihren Gemächern öffnete, wurde sie von mehreren Zofen und einem warmen Bad begrüßt. Dieses Bad war nach dem langen Weg genau das richtige zum Entspannen, doch auch das war ihr nicht ganz vergönnt. Eine Schneiderin, die ihr eine neue Garderobe anfertigen sollte, wurde zu ihr geschickt. Lyanna wusste nicht viel über die Kleidung in den Westlanden, sie vermutete aber, dass sie durch Cersei ähnlich sein würden, wie in der Hauptstadt.

„Mylady, es ist egal was die anderen tragen, Ihr seid unsere Lady und jede Frau bei Hof und jede Frau in den Westlanden wird das tragen, was ihr tragt", meinte die Schneiderin, womit sie natürlich Recht hatte.

Lyanna überlegte kurz. Sie wollte ihren eigenen Stil zwar behalten, ihn aber auch an ihren neuen Stand und an ihre neue Heimat anpassen. Sie bat die Schneiderin deshalb, morgen noch einmal zu kommen. Bis dahin hätte Lyanna eine konkrete Vorstellung in ihrem Kopf, ein Konzept, mit dem die Frau würde arbeiten können. Außerdem war Lyanna bereits müde genug und wollte nicht noch Ewigkeiten Modell stehen.

Nach dem erfrischenden Bad zog es sie auf ihren Balkon, von dem aus sie den Sonnenuntergang über dem Meer der Abenddämmerung beobachtete, während die Möwen krähten und die Wellen beruhigend rauschten. Ein friedlicher Anblick, an den sie sich gewöhnen konnte. Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, legte sie sich in ihr neues Bett und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen wurde sie von den Zofen geweckt, angekleidet und in eines der kleineren Esszimmer gebracht. Dort warteten Julen und ein ausgiebiges Frühstück auf sie. Danach verlangte der Maester ihre Aufmerksamkeit in Lyannas Arbeitszimmer. Er setzte ihr das Haushaltsbuch vor. Jede einzelne Münze, die eingenommen und ausgegeben wurde, war darin verzeichnet. Unzählige Zahlen, die schnell verwirren konnten. Hätte Mutter sie nicht damals dazu gezwungen, die Haushaltsbücher von Winterfell zu studieren, hätten sie diese Zahlen wohl überfordert, doch mit Hilfe von Erklärungen des Maesters fand sie sich schnell in dem Wirrwarr zurecht. Danach gab er ihr einen Stapel verschiedener Schriftstücke. Es waren die Nachrichten, die seit Kevan Lannisters Abreise Casterlystein entweder per Rabe oder durch Boten erreicht hatten. Es waren auch einige von heute Morgen dabei. Drei davon stachen Lyanna sofort ins Gesicht.

Die erste Nachricht kam von der Mauer und berichtete von der 998. Wahl zum Lord Kommandanten, die ihr Halbbruder Jon Schnee für sich entscheiden konnte. Lyanna freute sich für ihn, als sie diese Zeilen las, denn bereits als Kind wollte Jon immer wie ihr Onkel Benjen zu Nachtwache und dessen Lord Kommandant zu sein, war die größte Ehre.

Als zweites studierte sie eine Meldung aus Essos, dem weit entfernten Meereen, um genau zu sein. Daenerys Targaryen, die letzte ihres einst so großen Hauses hatte die ehemalige Sklavenstadt mit einer Armee aus ehemaligen Sklavensoldaten und Söldnern befreit. Wenn man der Nachricht glauben sollte, besaß sie darüber hinaus drei gesunde Drachen und den Rat von Ser Barristan Selmy. Würde sie die Meerenge übersetzten, wäre sie damit sicherlich eine Gefahr für das Reich, doch Meereen war weit entfernt, weshalb die Bedrohung vorerst gering war.

Zuletzt stieß Lyanna auf eine Nachricht aus Hohenehr, dort vermutete sie ihre Schwester Sansa, weshalb sie der Inhalt dieser Nachricht besonders interessierte. Etwas Schreckliches war auf der Ehr passiert. Ihre Tante Lysa Arryn, die Lady des Grünen Tals, nahm sich dort selbst ihr Leben, indem sie sich in die Tiefe stürzte. Ihr Ehegatte, Lord Petyr Baelish, war nun stellvertretend für ihren noch nicht volljährigen Sohn Robin der neue Lord Protektor. Diese Nachricht brachte Lyanna zum Grübeln. Vor allem in Verbindung mit Stannis Vorhaben konnte sie nur hoffen, Sansa würde ihr Versprechen einhalten. Zur Sicherheit ließ sie einen Raben zurück nach Hohenehr fliegen.

Nach den Verwaltungsangelegenheiten wartete wieder die Schneiderin auf Lyanna. Anstelle ihr aufzuzählen, was sie nicht mochte und was schon, gab Lyanna ihr eine Skizze, die sie selbst anfertigte. So sollte ihre Kleidung aussehen. Die passenden Stoffe und Farben hatte sie dazu notiert, weshalb die Schneiderin nur mehr ihre Maße nehmen musste. In den nächsten Wochen würden bereits die ersten Stücke fertig sein, versicherte ihr die Kleidermacherin, bevor sie ging.

Danach hatte Lyanna endlich Zeit für sich, Zeit, die sie nutzte, um in ihr Tagebuch zu schreiben. Sie hatte dieses Tagebuch zwar erst nach Julens Geburt angefangen, es aber auch mit Erlebnissen und Ereignissen vor diesem Tag gefüllt. Diesmal schreib sie drei Seiten von ihrem ersten Tag als Burgherrin, bevor sie die Tinte trocknen ließ und das Buch in einer Kiste verschloss.

Nach dem Abendessen ging sie zu Julen, der mit seiner Kinderfrau in seinem neuen, riesigen Zimmer auf dem Boden vor dem Kamin spielte. Er schien sich auf Casterlystein wohlzufühlen und förmlich zu gedeihen. Mittlerweile sah er mit seinen goldenen Haaren auch immer mehr wie ein Lannister aus, während die blauen Augen eher an die Starks oder Tullys erinnerten. Bevor sie ihn zu Bett brachte, kuschelte sie mit ihrem Sohn auf einem Sessel am Feuer. Julen vermisste seinen Vater, woraufhin auch Lyanna zugeben musste, dass es ihr genauso erging. Sie hatte lange nicht mehr über ihn gesprochen, aus Angst und weil sie ihre eigene Stimmung nicht trüben wollte, doch Julen zuliebe sprang sie über ihren Schatten und erzählte ihm Geschichten über Eddard Stark, die ihr die alte Nan als Kind immer erzählte. Mit Julen fest an ihren Körper gekuschelt und mit einer Decke zugedeckt schliefen sie beide in dem Sessel vor dem Kaminfeuer ein.

The Red Wolf of the NorthWo Geschichten leben. Entdecke jetzt