Wenn mein Leben normal wäre, würde ich vermutlich nicht hinein passen

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Dunkel, wirklich alles ist dunkel. Absolute Finsternis. Kein Licht, nicht einmal ein kleiner Funken. Ich fühle mich so einsam, wie noch nie. Denn es ist keiner da. Noch nicht.

Denn ich weiß, was gleich passieren wird. Ich war in diesem Nichts schon einmal. Ach quatsch. Hunderte Male, wenn nicht sogar tausende. Immer wieder lande ich hier. Immer wieder muss ich diese Qualen durchleben. 
Doch egal wie oft ich hier bin, ich fürchte mich jedes mal aufs Neue. Kalter Schweiß läuft mir den Rücken runter. Mein Atem geht immer flacher. Ein Schauer durchfährt mich.
Langsam lasse ich mich auf meine Knie fallen und halte mir meine Hände vor mein Gesicht, in dunkler Vorahnung, was jeden Moment passieren wird. Ich will das nicht. Es soll aufhören! 
Mein Herz rast. So schnell, dass ich sogar glaube, es hören zu können. Nein, ich kann es wirklich hören. Laut und deutlich. Das Blut rauscht in meinen Ohren. 
So ist es immer.
Ich stehe wieder auf. Mit zitternden Knien. Ich wünsche mir jedes Mal, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Doch irgendwas hält mich hier. Ich kann einfach nicht flüchten. Egal, wie sehr ich es möchte. Und jedes Mal dauert es länger. So kommt es mir jedenfalls vor. Unendliche Stunden. Dabei sind es vielleicht nur wenige Sekunden. Wahrscheinlich weil ich den Ablauf so genau kenne. Und ...das Ende.
Den Kampf, mich dagegen zu wehren, habe ich bereits aufgegeben. Es bringt ja eh nichts.
Meine Hände werden immer kälter. Jegliche Wärme ist schon lange aus meinem Körper gewichen. Kalt. Hier ist es so unerträglich kalt.
Ein Lufthauch fährt durch meine Haare und streichelt meinen Nacken. Ein weiterer Schauer jagt durch meinen Körper und lässt mich beben.
Ist es endlich so weit? Wie automatisiert lasse ich meine Hände sinken. Grelles Licht verbrennt meine Augen. Ich hätte es besser wissen müssen.

Das Licht tut meinen Augen so sehr weh, dass eine einsame und mir nur zu wohl bekannte Träne meine Wange runter tropft.
Ich bilde mir ein, hören zu können, wie der Tropfen den harten, glatten Boden trifft, als hätte ich einen Stein aus meiner Hand gleiten lassen.
Dies lässt mich jedes Mal genauer hinhören. Und dann ist es so weit.
Schritte. Ich höre die Schritte. Seine Schritte. Sie kommen von hinten.
Dreh dich nicht um, denke ich mir. Doch ich habe keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Meine Beine bewegen sich.
Dann sehe ich es. Das Wesen. Das Wesen, welches für meine Schreie verantwortlich ist. Und das, obwohl ich es schon so oft gesehen habe.
Auf den ersten Blick denke ich mir immer, wie schön es aussieht. Aber dieser Blick dauert selten länger als eine halbe Sekunde. Denn dann sehe ich, was wirklich vor mir steht.
Finstere Augen starren direkt in meine. Sie haben die Farbe von Blut. Und sind groß.
Sein Mund ist zu einem Furcht einflößenden Lächeln verzogen und zeigt eine Reihe perlweißer, scharfer Zähne.
Es sieht menschlich aus und dann auch wieder nicht.
Es knurrt. Laut und bedrohlich. Und tief. Ich beiße auf meine Lippen, um einen Schrei zu verhindern.
Gleich ist es überstanden. Nur noch wenige Momente, die ich hier verbringen musste.
Langsam schreitet es auf mich zu. Es reißt seinen Mund auf.
Ich blinzle einmal und dann spüre ich auch schon den stechenden Schmerz in meinem Hals. Ich schreie. Schreie vor Schmerz. Schreie, weil es das Einzige ist, was ich im Moment machen kann. Bewegen ist nicht mehr möglich. Es hält mich fest. Seine Hände bohren sich förmlich in meine Arme, die zu brechen drohen.
Dann, endlich. Das Wesen lässt von mir ab. Stößt mich von sich, als sei ich plötzlich unwichtig für ihn.
Der Wind schießt an mir vorbei, während ich in die tiefe Schlucht ins dunkle falle. Ich falle und falle. Ich bekomme keine Luft. Ersticken! Ich werde ersticken! Verzweifelt ringe ich nach Luft. Doch es hilft nichts.
Ich falle weiter. Immer tiefer. In ein tiefes Loch. Ohne Boden. Ohne halt. Dann ist es dunkel...

Ich zuckte heftig zusammen und fiel mit einem dumpfen Prall aus meinem Bett direkt auf den harten Boden. Welch eine Ironie...
"Au, verdammt" fluchte -oder viel mehr krächzte -ich. Mein Hals brannte. Habe ich schon wieder so laut geschrien? Hoffentlich habe ich Lucy nicht geweckt!
Ich blinzelte einige Male, ehe ich einen klaren Blick bekam. Es war noch dunkel, aber ich kannte mein Zimmer so genau, dass ich selbst in tiefster Finsternis mein Armband, welches ich vor dem schlafen gehen achtlos zur Seite geworfen hatte, in meinem -laut Lucy- drei Meter großen Wäschehaufen finden konnte. Oder den Aufenthaltsort meines Weckers, den mir mein Tantchen vor einigen Wochen gekauft hatte, damit ich nicht immer verschlief und nun kaputt auf meinem Schreibtisch alle zehn Minuten vor sich hin tickte, konnte ich mit Genauigkeit bestimmen. Der Wecker war kaputt, weil ich gleich am ersten Morgen wütend auf ihn drauf geschlagen hatte.
Zu meiner Verteidigung - er hat genau sieben Minuten zu früh geklingelt! Außerdem hatte ich mir meine Hand leicht verstaucht, weil ich ihn an einer ganz blöden Stelle getroffen habe. Also waren der Wecker und ich quitt.
Nicht, dass ich an Karma und diesen ganzen übernatürlichen Quatsch glaubte, aber das war nur einer von vielen Unglaublichen Zufällen, die sich in letzter zeit bei mir häuften.
Erst letztens hatte ich es schrecklich eilig (Ich hatte so meine Problem mit der Zeit...) und musste den Bus auf der gegenüberliegenden Straßenseite erwischen. Ich rannte zur Ampel und stieß dabei -aus Versehen- eine ältere Dame um. Doch ich hatte keine Zeit, um mich nach ihr umzudrehen und genau als ich vor der Ampel stand, wurde das Mistding natürlich rot und ich musste eine Stunde auf den nächsten Bus warten.
Und als wäre das nicht schon Strafe genug, wartete die alte Dame ebenfalls auf den Bus und setzte sich neben mich auf eine Bank.
Kaum hatten ihre vier Buchstaben das verdächtig morsch aussehende Holz berührt, fing sie auch schon an zu meckern und die längsten Minuten meines Lebens begannen. Sie faselte etwas von respektlos und die Jugend von heute. Neben ihrer grässlichen und ätzenden Stimme, strömte sie auch noch diesen komischen "Alte-Leute-Duft" aus.
Und als ich die Story meiner Französischlehrerin aufgetischt habe, hat sie sie mir natürlich nicht geglaubt. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich sie mir selbst nicht abgekauft.
Mein Blick fiel auf meinen neuen Wecker, der auf meinem kleinen, weißen Nachttischchen stand. Die Leuchtschrift verriet mir, dass es gerade mal drei Uhr morgens war. Kein Wunder also, dass es noch so dunkel war.
Die Tür wurde aufgerissen und meine Tante stand mit gehetztem und gleichzeitig sorgenvollem Gesicht in der Tür.
Dann habe ich sie also doch aufgeweckt... So ein Mist!
"Tori, komm her, Schätzchen" Lucy kam auf mich zu und half mir wieder auf die Beine. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich immer noch auf dem Boden lag, alle viere von mir gestreckt, als läge ich auf einer Wiese und würde mich sonnen.
"Sorry Lucy, ich wollte dich nicht wecken" brummte ich verärgert. Ich wusste, dass sie sich große Sorgen um mich machte. Und das wollte ich nicht. Es war schließlich nur ein Alptraum, auch wenn er furchtbar war und sich mindestens zweimal in der Woche in meine Träume schlich. Und heute war es ganz besonders beschissen, weil ich einen richtig schönen Traum hatte.
Ich war schon beim Arzt deswegen und einem Psychologen, der selber mal einen aufsuchen sollte. Ich glaub, ich habe ihn zur Verzweiflung getrieben, denn nach der ersten Sitzung wollte er mich nicht mehr wieder sehen. Seitdem ignoriert er sogar meine Anrufe, der Blödmann! Ich weiß gar nicht, was der hat!
Jedenfalls ... nichts gab Aufschluss darüber, weshalb ich diesen einen Alptraum immer und immer wieder hatte.
Selbst der Besuch beim bekloppten, aber dennoch irgendwie seriös wirkenden Traumdeuter hat lediglich dazu beigetragen, das Geld aus unserer Haushaltskasse verschwinden zu lassen, denn auch er hat ziemlich schnell aufgegeben und gemeint, ich sei verrückt. Und frech. Und unhöflich. Und nervig. Und besserwisserisch. Und aggressiv. Dabei hatte ich ihn nur aus Versehen mit dem Dekoapfel getroffen. 
Also haben Lucy und ich mittlerweile aufgehört, nach einer Lösung zu suchen. Es gab nämlich keine.
Ich habe mich eigentlich ganz gut an meine Situation gewöhnt. Schließlich muss ich das ja. Ich habe sogar aufgehört, mir darüber Gedanken zu machen, was dieser Traum bedeuten könnte. Oder warum ich ihn bekam. Das war mir Mittlerweile vollkommen egal.
Mir tat nur Lucy leid, die glaubte, dass sie mit mir leiden musste.
Sie hat zwei Jobs, mit denen sie uns über Wasser hielt. Ich sah sie deswegen selten. Viel zu selten. Außerdem waren ihre Chefs Ärsche. Einer von ihnen hatte sogar tatsächlich einen Arschkinn (er fand es übrigens nicht ganz so lustig, als ich ihn darauf hingewiesen habe). Sie ließen die arme Lucy Überstunden machen -unbezahlte versteht sich, man will seine Arbeiter ja nicht zu gut bezahlen- und sie waren schmierige Grabscher. Ich fragte mich, wie meine Tante das nur aushalten konnte...
Aber sie weigerte sich strickt, mein Angebot anzunehmen, mir ebenfalls einen Job zu suchen.
Sturheit lag nun mal in unserer Familie. Es gab kaum ein weibliches Familienmitglied, welches nicht am liebsten mit dem -natürlich stolz erhobenen- Kopf durch die Wand donnern wollte, nur um seinen Willen durchzusetzen oder um Recht zu behalten, obwohl man ganz genau weiß, wie falsch man liegt.
Jedenfalls hat sie mir das immer gesagt. Ich kannte meine Familie kaum. Entweder lebten sie am anderen Ende der Welt und waren uralt oder sind schon seit Ewigkeiten tot.
Der Grund dafür lag einige Jahre in der Vergangenheit. Meine Großeltern väterlicherseits habe ich nie kennengelernt -weshalb, wusste ich bis heute nicht. Die Eltern meiner Mutter sind schon früh gestorben. Und abgesehen von meiner Mom und meiner Tante Lucy hatten sie keine Kinder.
Nun, was meine Eltern anging...

Engelchen im Herzen, Teufelchen im Blut und den reinen Wahnsinn im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt