Kapitel 4

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„Na hat Kim jemanden kennengelernt?", fragt Noah und schenkt mir einen Kaffee ein.

„Kennengelernt?", frage ich und mache große Augen. Er lacht.

Oft genug war er mit uns unterwegs. Wie oft haben wir ihr gesagt, sie soll es langsam angehen lassen, aber sie wirft sich den Kerlen vor die Füße. Sie ist hübsch, keine Frage. Doch die Beute kann noch so schön sein, sie weckt keinen Jagdinstinkt. Das will sie natürlich nicht hören. Aber es ist doch so. Männer wollen Frauen erobern. Bei Kim gibt es allerdings nichts zu erobern. Sie entscheidet sich für einen Kerl und geht sofort aufs Ganze. Ich muss daran denken, wie wir gestern in der Dunkelheit noch ihrem Auto gesessen sind.

„Komm, ich sende ihm das jetzt", hat sie gelacht und auf ihr Display gestarrt.

„Kim, hör auf!", meine Stimme war viel zu hoch. Ich musste so lachen, dass sie mich mit Sicherheit nicht ernst genommen hat. „Was denn?", ihr Augen waren ganz groß. „Das kannst du nicht machen!", ich wollte ihr das Handy wegnehmen, doch sie war schneller.

„Okay, les es nochmal laut vor, dann merkst du es selber"

Sie räusperte sich theatralisch. „Schatz, ich bin jetzt Zuhause. Ich kann dir Frühstück machen, wenn du willst."

„Merkst du es?"

Sie hat gekichert und ihr Handy in die Mittelkonsole gelegt. Ich mir sicher, sie hat es dem armen Kerl geschickt, noch bevor ich die Haustüre hinter mir geschlossen hatte.

Ich greife über den Tisch und nehme mir einen Toast. Dabei fällt mein Blick auf den Stempel auf meinem Handgelenk. Ganz blass ist er noch zu erkennen. Dort hat er mich berührt, seine Hand um mein Handgelenk gelegt und meinen Körper elektrisiert. Shane. Ich lege meine Hand auf die Stelle. Ich hätte nie gedacht, dass ein Fremder so vertraut wirken kann. Die Erinnerung an seinen Blick treibt mir die Hitze in die Wangen. Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her. Beruhig dich, Lilia. Es ist nichts passiert. Im Augenwinkel sehe ich, dass Noah zu mir blickt. Schnell rubble ich mit meiner Hand über die Stelle.

„Diese Stempel sind ätzend", sagt er. Ich nicke und versuche die Erinnerung wegzuwischen. Vergeblich. Wie gut der Name zu ihm passt. Shane. Das strahlt etwas aus. So wie er. Er wirkt selbstsicher, ist attraktiv. Kim nennt ihn Mr. Superhot. Und das ist er. Ich muss die Erinnerung an diesen Kerl verdrängen. Unbedingt. Mein Handgelenk ist vom Rubbeln ganz rot und heiß. Der Stempel ist verblasst, doch die Erinnerung ist frisch. Mein Magen zieht sich zusammen, ich schiebe meinen Teller von mir weg.

„Ich muss später noch kurz in die Firma", murmelt Noah und tippt auf sein Handy.

„Kurz?", frage ich und ziehe eine Augenbraue nach oben.

„Eine Stunde?", fragt er.

„Okay", sage ich, „kannst du mich dann am Park raus lassen?"

„Mhmm", brummt er und er tippt weiter auf seinem Handy.

. . .

Ich schnüre meine gelben Joggingschuhe zu und schlüpfe in einen zusätzlichen Pullover.

„Lilia, wir müssen wirklich los!", höre ich Noah aus der Einfahrt rufen. Ich nehme mein Handy und meine Wasserflasche. Ich schließe die Haustüre ab und gehe zu Noahs schwarzem Jeep. Ich steige ein und er dreht das Radio leiser. Er hört Nachrichten. Irgendwie ist er so ernst geworden, seit er mit seinem Vater die Firma leitet. Ich verstehe, dass das schwierig ist, dass man sich beweisen muss. Vor allem als Sohn. Aber er hat sich verändert. Er wirkt viel älter als 26. Sein Blick ist auf die Straße geheftet, er hat seine Lippen zusammengepresst. Ich vermisse es, mit ihm zu lachen. Ich vermisse die Tage, an denen er Zeit hatte. Und unbeschwert war. Ich vermisse ihn.

Die Reifen seines Jeeps knirschen auf dem Schotterparkplatz.

„Ich hole dich dann in einer Stunde wieder ab, okay?", fragt er und dreht am Lautstärkeregler. Die Nachrichten werden lauter.

„Okay", sage ich. Ich küsse ihn schnell und steige aus. Die kühle Luft jagt mir einen Schauer über den Körper. Ich gehe über den Parkplatz und stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren. Get away. The Internet. Endlich bin ich in meiner Welt. Ich atme einmal tief und laufe langsam los. Die ersten Schritte sind die Schwersten. Danach wird es mit jedem Schritt leichter, bis ich schließlich das Gefühl habe, zu schweben. Es ist, als würde mich eine unsichtbare Macht nach vorne ziehen. Weiter und weiter.

Schritt. Schritt. Schritt. Atmen. Ich jogge eine Runde. Der Tag ist perfekt für das hier. Es ist ein kalter, aber sonniger Tag. Bald wird der erste Schnee fallen. Meine Runde führt mich um den kleinen See. Er ist umsäumt von Schilf und Holzbänken. Er strahlt Stille aus. Ruhe. Die Wasseroberfläche glitzert im Sonnenlicht. Es sieht schön aus. So viele fremde Menschen tummeln sich auf den Wegen und Wiesen. Irgendwie sind wir zusammen, doch trotzdem ist jeder alleine. Es ist ein schönes Gefühl.

Ich überhole zwei Jogger und bin endlich ganz für mich. Noch eine Runde. Der Beat dröhnt in meinen Ohren. Ich weiche einer Gruppe Jogger aus und lächle freundlich. Am Ende der Gruppe sehe ich einen großen Kerl. Er hat die Kapuze ins Gesicht gezogen. Mein Herz pocht wild, mein Körper kribbelt. Die Kapuze. Hier habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Letzte Woche. Gestern ist er einfach gegangen. Er kommt näher. Mit jedem Schritt verkrampfen meine Muskeln mehr.

Noch ein paar Schritte, dann steht er vor mir. Was soll ich sagen? Ich nehme meine Kopfhörer aus den Ohren. Meine Schritte knirschen auf dem Boden, mein Herz schlägt schnell. Ich werde langsamer, er hebt seinen Kopf. Ich lächle und sehe in ausdruckslose Augen. Ich halte den Atem an. Das ist nicht Shane. Das sind nicht seine Augen. Verdammt. Wollte ich, dass er es ist? Das ist nicht richtig. Schritt. Atmen. Mist. Schritt. Atmen. Schritt. Schritt. Atmen. Ich bleibe stehen. Ich lege meine Hände auf meine Oberschenkel, beuge mich nach vorne und atme tief durch.

„Hey", höre ich eine tiefe Stimme hinter mir. Oh. Mist. Ich drehe mich langsam um. Der Kerl sieht mich an und streift seine Kapuze zurück.

„Hey", ich hebe meine Hand. Die andere lege ich auf meine schmerzende Taille. „Entschuldige, ich habe dich verwechselt", sage ich und versuche wieder zu Atem zu kommen.

„Oh, kein Problem", er zieht sich die Kapuze wieder über den Kopf und joggt los. Ich schließe meine Augen. Verdammt.

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So, dann schönen Update-Sonntag noch... oh... hoppla ;D

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