Kapitel 39

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Noah steht vor unserem Bett und wirkt so groß. Seine Brust hebt und senkt sich schnell. Er dreht sich um, schlägt nochmal mit seiner Faust gegen den Schrank und hinterlässt einen Abdruck seiner Wut. „Wer von uns beiden ist hier der Lügner?", höre ich ihn brüllen, bevor er die Schlafzimmertüre zuknallt und die Treppen nach unten trampelt.

- - -

Ich habe so viele Gedanken in meinem Kopf. So viele Gefühle. Angst, Zweifel, Scham, Hoffnung. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Ich klappe die Sonnenblende herunter und betrachte mich im Spiegel. Meine Augen sind gerötet, meine Tränensäcke sind geschwollen. Ich klappe den Spiegel wieder zu, nehme meine Handtasche vom Beifahrersitz und steige aus dem Auto.

Ich werde meine Aussage machen und danach zu Kim fahren. Ja, ich muss sie sehen. Ich betrete die Polizeistation und beuge mich zu dem Polizisten hinter der Scheibe. Er schiebt sie zurück und sieht mich an.

„Hallo. Ich soll eine Aussage machen", sage ich. „Zimmer 17", sagt er und ich höre das metallische Summen des Türschlosses. „Danke", murmle ich, doch erwarte diesmal keine Antwort. Und ich bekomme auch keine. Schnell gehe ich auf die schwere Türe zu und ziehe sie auf. Zimmer 17. Wie letztes Mal. Großartig. Ich gehe über den Flur und bleibe vor der geschlossenen Tür stehen. Ich atme tief und klopfe vorsichtig an.

„Herein!", ruft der Polizist viel zu laut. Ich drücke die Klinke und betrete das Büro. Mein Herz pocht wild und ich hoffe, dass er sich nicht an Kims Beleidigung erinnert. „Hallo", sage ich und schließe die Tür hinter mir. „Ach schau mal einer an. Was für eine schöne Überraschung", sagt der Polizist und lehnt sich zurück. Ich setze mich auf den Stuhl vor seinen Schreibtisch. „Ich soll eine Aussage machen", sage ich und versuche seinen Spruch zu ignorieren.

„Zu welchem Vorgang?", fragt er und dreht sich zu seinem PC. Vorgang? Ich schlucke. Es ist also nur ein Vorgang. „Also...Gestern Abend...Am Flussufer...Frau de Fries", sage ich und hoffe, dass ihm die Stichworte reichen. Der Polizist tippt etwas in seinen PC und nickt.

„Ausweis?", fragt er. Ich hole meinen Ausweis aus meiner Tasche und lege ihn auf den Tisch. Er nimmt ihn und legt ihn vor sich. Die Tastatur klappert, das Tippen dröhnt in meinen Ohren. Ich wippe mit meinem Fuß und warte. Der Polizist legt meinen Ausweis wieder vor mich auf den Tisch. Ich nehme ihn und stecke ihn zurück in meine Tasche. Ich lasse mir Zeit, denn ich will nicht hier sein. Ich will das nicht erzählen müssen. Doch ich muss. Für Kim.

Ich schließe den Reißverschluss meiner Tasche und hebe meinen Blick. Der Polizist trinkt einen Schluck und ich sehe die schwarze geschwungene Linie auf dem Tassenboden. Sofort erinnere ich mich an Kims seltsame Atmung, als sie sich das Lachen verkneifen musste. Ich erinnere mich an Kims seltsame Atmung, als sie gemerkt hat, dass sie verfolgt wird. Ich erinnere mich an all die seltsamen Geräusche. An die Schritte. An ihr Wimmern und schlucke.

„Okay", sagt der Polizist und stellt seine Tasse ab. „Was können Sie berichten?" Ich fummle an dem Reißverschluss meiner Handtasche und erzähle, dass Kim das Gefühl hatte verfolgt zu werden. Ich erzähle, dass sie sich erst nicht sicher war, aber dass sie dann auf einmal geschrien hat. Der Schrei hallt in meinen Ohren, schießt durch meinen Körper und ich spüre Tränen in meinen Augen brennen. Mein Blick verschwimmt, doch ich erzähle weiter. Von der Stille. Von den Schritten. Von dem Atem in der Leitung. „Wie hat sich der Atem angehört?", fragt der Polizist und zieht eine Augenbraue nach oben.

„Wie bitte?", frage ich. „Männlich, weiblich, alt, jung?", fragt er. Die Erinnerung pulsiert in meinen Ohren. Stoßweise, schwer und rau. „Männlich....", sage ich. Die Atmung war stark und dennoch weich, gleichmäßig und trotzdem dynamisch. „...jung", sage ich. „Definieren sie jung", sagt er und dreht sich zu seinem PC. „Ich weiß nicht", sage ich. „Dann schätzen Sie eben", sagt er. Ich blicke auf den leeren Stuhl neben mir. Ich wünschte, Kim wäre hier bei mir. Ich würde sie ansehen und sie würde mir zuzwinkern. Sie würde den Polizisten beleidigen und ohne Strafe davonkommen. Wir würden lachen und die Wache verlassen. „Zwanzig, Dreißig, Vierzig?", fragt der Polizist genervt. „Also...Mitte Zwanzig...vielleicht... also...glaube ich", sage ich und kämpfe mit den Tränen.

Ich versuche ihm jede seiner Fragen zu beantworten und höre endlich den Drucker rattern. Ich lese meine Aussage durch, unterschreibe und erhebe mich. „Keine Fragen heute?", fragt er hinter mir. Ich habe so viele Fragen. Ich habe so große Angst. Doch ich antworte nicht und verlasse das Büro.

- -

Ich gehe den langen Gang entlang, der helle Boden hat einen matten Glanz. Die Wände sind weiß, doch am schlimmsten ist der Geruch. Es riecht abgestanden, nach Desinfektionsmitteln, nach Menschen, Maschinen, Angst und Hoffnung. Es riecht nach Einsamkeit, nach Verzweiflung und nach Wut. Von diesem Geruch benebelt stehe ich plötzlich vor dieser Türe.

Ich muss nur noch den Raum betreten, dann bin ich bei ihr. Noch nie ist es mir so schwer gefallen, sie zu sehen. Ich schließe kurz meine Augen und atme tief durch. Ich schaffe das. Ich muss zu ihr. Sie ist meine Kim. Sie braucht mich. Und ich brauche sie.

Langsam gehe ich auf sie zu. Sie liegt in dem hohen Bett, ihre Augen sind geschlossen, die Maschinen piepsen gleichmäßig. Mein Herz schlägt viel zu schnell, der Geruch benebelt meine Sinne. Leise stelle ich mich neben sie. Ein schmerzhaftes Kribbeln fährt durch meinen Körper, als ich ihre Schrammen und Wunden betrachte.

Ihr Gesicht ist geschwollen, ihre Wangen sind rot und blau. Ein Schlauch hängt aus ihrem Mundwinkel, ihre Lippe ist aufgeplatzt. Sie riecht nach Desinfektionsmitteln und ich wünsche mir den Obstkorbduft zurück. Ich möchte ihre großen Augen sehen, möchte sie lachen hören.

Ich betrachte ihre Hände. Das eine Handgelenk ist verbunden, ich sehe eine Infusionsnadel auf ihrem Handrücken. Zwei ihrer Fingernägel sind abgebrochen, das Nagelbett ist schwarz. Ich schlucke. Ich erinnere mich, wie sie auf ihrer weißen Couch saß. Vor ihr standen jede Menge kleine Fläschchen mit Nagellack und Nagelöl, Cremes und Tuben.

„Weißt du Pumpkin, gepflegte Hände sind wie eine Visitenkarte. Sie erzählen ohne Worte, wer du bist", hat sie gelacht und mit ihrer Nagelfeile in der Luft gewedelt. Oh, Kim und jetzt erzählen deine Hände eine schreckliche Geschichte. Ich schlucke. Ich stehe eine Weile so da und kann nicht sprechen. Doch dann nähere ich mich vorsichtig noch einen Schritt und lege sanft meine Hand auf ihre Schulter.

„Kim", flüstere ich. Ihre Brust hebt und senkt sich, die Maschine piepst gleichmäßig. „Kim, ich bin bei dir", flüstere ich, „Ich bin hier. Bitte wach wieder auf, Kim. Ich brauche dich", flüstere ich. „Hast du Schmerzen?", frage ich und sehe sie an. „Kim ich habe Angst um dich. Hast du gesehen, wer das war? Kim?", flüstere ich. Mein Herz schlägt viel zu schnell, ich will hier raus.

„Kim, ich komme morgen wieder. Und dann erzählst du mir, wer dir das angetan hat, okay?", flüstere ich und gehe langsam rückwärts. Ich bilde mir ein, dass sich das Piepsen der Maschine für einen Moment verändert hat. Ich halte die Luft an und stehe still. Doch das Piepsen ist träge und gleichmäßig.  Ich spüre die Türe im Rücken und drehe mich um. Ich muss hier raus.

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