Kapitel 40

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„Kim, ich komme morgen wieder. Und dann erzählst du mir, wer dir das angetan hat, okay?", flüstere ich und gehe langsam rückwärts. Ich bilde mir ein, dass sich das Piepsen der Maschine für einen Moment verändert hat. Ich halte die Luft an und stehe still. Doch das Piepsen ist träge und gleichmäßig. Ich spüre die Türe im Rücken und drehe mich um. Ich muss hier raus.

- - -

Ich steige in mein Auto und merke, dass mein Herz immer noch viel zu schnell schlägt. Die Erinnerung an Kims Atmung, an ihr Wimmern und ihre Angst dröhnen noch in meinen Ohren. Zusammen mit den Bildern ihres leblosen Körpers auf dem Weg jagen sie mir einen kalten Schauer über den Körper. Ich möchte die Erinnerung loswerden, möchte sie nicht in meinem Körper spüren.

Ich rutsche auf dem Sitz hin und her. Nein, ich kann nicht nach Hause. Ich halte es dort nicht aus. Nicht ohne Noah. Seine Nähe war warm und vertraut. Bei ihm fühle ich mich sicher. Ich möchte bei ihm sein, doch ich kann nicht zu ihm. Mit der flachen Hand schlage ich aufs Lenkrad und spüre Tränen in meinen Augen brennen.

Ich könnte mich Ohrfeigen. Dafür, dass ich mich von Shanes blauen Augen so angezogen fühle. Dafür, dass mein Körper kribbelt, wenn er in der Nähe ist und mir sein raues Lachen eine Gänsehaut verpasst. Dafür, dass ich mich auf ihn eingelassen habe und ich wahrscheinlich Teil eines Geschäftsdeals bin. Aber vor allem dafür, dass ich wegen ihm Noah verloren habe. Ich muss mit ihm sprechen. Er ist der Richtige und ich habe einen großen Fehler gemacht.

Ich fahre zu Kims Wohnung und hoffe, dass er da ist. Ich quetsche meinen Mini in eine Parklücke, die eigentlich keine ist, steige aus und drücke auf die Klingel. Noahs Schritte kommen näher und ich höre meinen Herzschlag in den Ohren dröhnen. Er öffnet die Türe ein Stück und sieht mich mit großen Augen an. Seine Haare wirken stumpf, seine Haut ist blass.

„Lilia", sagt er leise, „...ich kann das nicht" Er versucht die Türe wieder zu schließen, doch ich lege meine Hand auf das Türblatt und drücke sie wieder auf. „Bitte, Noah", flehe ich und sehe ihn endlose Sekunden an. In sehe, wie sehr er mit sich kämpft. „Bitte", sage ich deshalb nochmal. Er seufzt und schüttelt den Kopf. „Bitte", flüstere ich wieder. Mein Körper bebt. Ich streiche mir über meine Wangen und merke, dass sie nass sind.

Langsam macht Noah einen Schritt zur Seite und ich bin erleichtert. Ich betrete Kims Wohnung und rieche ihren vertrauten Duft. Ich sehe die hellen Wände, die vielen Bilder und die seltsamen Möbel mit den bunten Schubladen, die sie so schön findet. Ich schlucke. Ohne sie fühle ich mich hier fremd. Ihr Lachen und ihr Geplapper fehlen mir. Es hat die Wände ein bisschen heller und die Schubladen ein bisschen bunter wirken lassen. Und jetzt ist sie weg.

Noah geht an mir vorbei und ich folge ihm langsam ins Wohnzimmer. Seine Sachen liegen auf dem Tisch, auf der Couch und auf dem Boden. Erst jetzt wird mir bewusst, dass er hier wohnt. Und das, weil ich so ungerecht war. Weil ich ihm etwas zugetraut habe, das ich selbst getan habe. Er hat kein Zuhause mehr, weil ich es ihm genommen habe. Ich schlucke und lasse mich auf die Couch sinken.

Ich spüre Noahs Blick auf mir und sehe ihn an. Er sieht mich an, als könnte ich jeden Moment zerbrechen und ich versuche meine Tränen zurückzuhalten, doch ich schaffe es nicht. Sein Blick lässt alle Dämme brechen. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und spüre plötzlich seine Arme um meinen Körper. Ich lasse mich von ihm in eine Umarmung ziehen, lege meine Wange an seine Brust und schließe meine Augen.

Ich fühle mich, als würde unter mir der Abgrund klaffen, doch ich falle nicht, weil er mich festhält. Ich klammere mich an ihn, höre seinen gleichmäßigen Herzschlag und spüre seinen warmen Atem auf meinem Scheitel. Ich möchte ihm sagen, dass es dumm war zu glauben, dass er mich betrogen hat. Ich möchte ihm sagen, dass ich weiß, dass ich damit alles kaputt gemacht habe, dass ich ihn brauche und dass ich ihn vermisse.

Ich vermisse das Geräusch seines Atems wenn er schläft. Ich vermisse seinen Jeep in der Einfahrt. Ich vermisse seine leise Stimme aus unserem Büro, wenn er telefoniert. Und ich vermisse es, mit ihm unsere Zukunft zu planen. All das möchte ich ihm sagen, doch ich merke, dass ich nicht sprechen kann. „Ich vermisse dich", ist das Einzige, dass ich flüstern kann. Er atmet durch die Nase aus und ich spüre seine Arme fester um meinen Körper. Ich versuche meinen Atem seinem anzupassen und spüre, wie er mir sanft über den Rücken streicht. Ich weiß nicht, wie lange wir so dasitzen, aber mit jeder Minute und jedem Atemzug fühle ich mich besser.

„Hast du Hunger?", fragt er leise und mein Ohr vibriert an seiner Brust. „Hunger?", frage ich und lehne mich ein Stück zurück, damit ihn ansehen kann. Seine Augen sind gerötet. „Dein Magen knurrt die ganze Zeit", sagt er. Er lächelt schwach und ich spüre, dass er Recht hat. „Hast du heute schon etwas gegessen?", fragt er und ich schüttle den Kopf. „Ich schau mal nach, ob noch was da ist", sagt er und schiebt mich sanft zurück. Er steht auf und ich sehe ihm nach. Ich weiß, dass ich ihn nicht verdient habe. Ich habe es nicht verdient, dass er sich Sorgen macht, dass er sich schlecht fühlt und sich trotzdem um mich kümmert. Wieder laufen mir die Tränen über meine Wangen.

Ich höre seine Schritte im Flur und wische mir mit meinem Ärmel schnell meine Tränen weg. „Sieht schlecht aus", sagt er und fährt sich mit der Hand durch die Haare. Er sieht erst auf die große Wanduhr und dann zu mir. „Sollen wir was bestellen?", fragt er, doch ich kann nicht so tun, als würden wir hier auf Kim warten. Als würde sie gleich zur Türe reinkommen und mit uns essen. Ich kann nicht hier bleiben. „Ich...", sage ich, doch Noah hat meinen Blick gesehen. „Komm", sagt er und nickt Richtung Tür, "Wir gehen Essen und reden"

Als ich aus meiner Jacke schlüpfe merke ich, dass ich sie lieber anbehalten würde. Die Pizzeria ist rustikal, aber trotzdem elegant. In meiner Jeans und dem Pullover fühle ich mich plötzlich unwohl und sehe Noah an. Er trägt eine dunkle Hose und ein enges Shirt. Er sieht viel eleganter aus als ich und am liebsten würde ich mich hinter ihm verstecken. Ich trete von einem Fuß auf den anderen und hoffe, dass er sich nicht für mich schämt. Ich möchte ihn bitten, dass wir woanders hinfahren, aber ein Kellner kommt bereits auf uns zu. Er lächelt mich schwach an und mir wird plötzlich bewusst, dass ich kein Make-up trage. Ich fühle mich unwohl in meiner Haut und unwohl in diesem Restaurant.

Der Kellner bittet uns ihm zu folgen und bringt uns zu einem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes. Der Raum wirkt düster, die kleinen Tische sind mit weißen Tischdecken und Kerzen geschmückt. Das Kristall glitzert und das feine Porzellan hebt sich kaum vom weiß der Tischdecke ab. Ich setze mich und rutsche meinen Stuhl zurecht. Wie seltsam es ist, Noah gegenüber zu sitzen.

„Lilia, ich weiß nicht, ob ich das mit uns noch kann", sagt er plötzlich und sieht mich an. Ich habe ihn verletzt, habe sein Vertrauen missbraucht und komme jetzt wieder angelaufen. Ich habe keine Entschuldigung, keine Erklärung. „Ich weiß", sage ich sanft und lächle unsicher. „Ich...", sage ich, doch der Kellner tritt an unseren Tisch und reicht mir die Speisekarte. Ich schlucke, als er sich über den Tisch beugt und die Kerze anzündet. Noch nie war mir das so unangenehm wie in diesem Moment. Die Flamme spiegelt sich in Noahs Augen und ich sehe, dass es ihm auch unangenehm ist. Schnell wende ich meinen Blick ab und öffne die Speisekarte. Ich überfliege die Gerichte, doch ich habe keinen Appetit. Ich entscheide mich für Nudeln mit irgendeiner Sauce.

„Was nimmst du?", fragt Noah und ich versuche den Namen der Sauce auszusprechen. Er blickt von seiner Karte auf, lächelt mich einen Moment an und ich weiß, dass ich es falsch ausgesprochen habe. Ich lächle unsicher und spüre schmerzend, wie sehr ich ihn vermisse.

Die Stille kehrt an unseren Tisch zurück und ich fummle an meiner Gabel herum. Sie funkelt im Kerzenschein. Wie fröhlich das aussieht. Neben uns höre ich ein Pärchen kichern. Ich atme tief, wische mir meine Hände an meiner Hose ab und weiß, dass ich meinen Fehler nicht wieder gut machen kann.


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