Kapitel 9

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„Du warst doch zuletzt hier! Ich war schon in der Firma, da hast du noch geschlafen. So wie offensichtlich bei jedem Gespräch, das wir über die Firma führen", sagt Noah laut. Meine Augen füllen sich mit Tränen, ich renne die Treppen nach unten. Seine schweren Schritte dröhnen hinter mir. Ich schlüpfe in meine gelben Schuhe. „Ach, jetzt haust du ab?", er lacht bitter. „Nenn es wie du willst", sage ich und knalle die Haustüre hinter mir zu.

- - -

Ich fahre auf den Schotterparkplatz und knalle die Autotür zu. Mein Mini wackelt, es wirkt lächerlich. Ich dachte, ich würde mich dann besser fühlen, doch es verfehlt seine Wirkung. Ich schnaube, stecke meinen Autoschlüssel in meine Hosentasche, schließe den Reißverschluss meiner Jacke und jogge langsam los. Noah ist so sauer. So habe ich ihn noch nie erlebt. Ich habe allen Grund, sauer zu sein. Nicht er. Ich stand da wie ein Vollidiot. Wahrscheinlich kocht Oliver vor Wut. Ich habe ihn seit meiner lächerlichen Präsentation nicht mehr gesehen. Gleich morgen muss ich mit ihm reden. Ich muss es ihm erklären, mich entschuldigen.

Schritt. Schritt. Schritt. Atmen. Die Kraft jedes Schrittes schießt dumpf durch meine Beine, meine Muskeln vibrieren.  Ich muss mich beruhigen. Ich versuche meine Muskeln zu lockern, über den Boden zu gleiten. Noah soll sich seine Vorwürfe sonst wo hinstecken. Er hätte doch merken müssen, dass ich nicht zuhöre. Merkt er nicht, dass ich wegen der Hochzeit andere Dinge im Kopf habe? Um alles muss ich mich alleine kümmern.

Plötzlich spüre ich eine Berührung an meiner Schulter. Fest. Unerwartet. Fremd. Ich zucke zusammen und schreie. Ich reiße mir die Kopfhörer aus den Ohren und drehe mich um. Das Adrenalin schärft meine Sinne, mein Körper spannt sich an. Blaue Augen. Shane.

„Spinnst du?", keife ich und fasse mir ans Herz, „du hast mich zu Tode erschreckt!" Das Blut rauscht durch meinen Körper, mein Herzschlag lässt mein Trommelfell vibrieren.

„Sorry", er hebt seine großen Hände vor seine Brust, „ich wusste nicht, dass du so schreckhaft bist", sagt er und lacht.

„Ach, meine Reaktion überrascht dich?", fauche ich. Er hat mir gerade noch gefehlt.

„Bist du immer so zickig?", fragt er und legt seinen Kopf schief.

„Schleichst du dich immer so an?", frage ich zurück und ziehe meine Augenbrauen nach oben. Seine blauen Augen leuchten. Sein Blick ist so intensiv. Mein Körper kribbelt, ich blinzle. Sein Lächeln wird breiter, er schiebt seine Hände in seine Hosentaschen.

„Was ist so lustig?", frage ich.

„Du bist süß", sagt er und zuckt mit den Schultern. Mir steigt die Hitze in die Wangen. Ich blinzle.

Er findet mich süß? „Pff", ich verdrehe die Augen. Was für eine blöde Masche. Doch sein Blick sagt mir, dass er es ernst meint.

„Bist du eigentlich oft hier? Also ich meine, weil ich dich hier noch nie gesehen habe. Also früher, meine ich. Nicht jetzt die letzten Tage", plappere ich und wedle mit meiner Hand in der Luft. Mein Kopfhörer baumelt wild am Kabel und ich habe Glück, dass ich mir damit nicht ins Gesicht geschlagen habe. Die Hitze steigt mir in die Wangen und er grinst breiter. Ich greife nach dem Kabel und zwinge mich, meine Hände ruhig zu halten.

„Ich bin gerade erst in die Nähe gezogen, falls das die Frage war" Er grinst und deutet hinter sich. Er hat ein wunderschönes Lächeln.

„Ja. Ja, das war die Frage", sage ich und merke, dass ich das Kopfhörerkabel um meine Finger wickle. Ich muss mich beruhigen. Ich muss hier weg. Dringend.

„Ich muss wieder los", sage ich und weiche einen Schritt zurück.

„Okay, man sieht sich, Lilia", sagt er und joggt los. Er erinnert sich an meinen Namen? Das ist gut. Oooh, nein. Das ist schlecht. Verdammt schlecht. Ich zupfe am Kopfhörerkabel, es ist total verheddert. Was hat er nur für eine Ausstrahlung?

Ich drehe mich noch einmal um und sehe ihm nach. Er joggt gleichmäßig, es sieht aus als würde er fliegen. Und trotzdem merkt man seine Kraft bei jedem Schritt. Was für ein schöner Kontrast. Okay. Jetzt ist Schluss. Ich stopfe meinen Kopfhörer in meine Jackentasche. Ich gehe noch eine Runde um den See um mich zu beruhigen und mache mich dann auf den Weg zu meinem Auto.

Ich steige ein und starte den Motor. Durch die Windschutzscheibe sehe ich etwas Weißes unter meinem Scheibenwischer. "Nein, ich will mein Auto nicht verkaufen", seufze ich und verdrehe meine Augen. Diese blöden Visitenkarten gehen mir auf die Nerven. Ich nehme den Gang raus und steige aus dem Auto.

Ich hebe den Scheibenwischer an und ziehe die Visitenkarte hervor. Ich drehe die Karte in meinen Händen. Sie ist unbedruckt, kleiner und dicker als sonst. Es ist keine Visitenkarte. Es ist ein Zettel. Wo kommt der her? Ich lasse meinen Blick über den Parkplatz schweifen. Ich sehe einen alten Mann über den Schotter gehen. Sein Dackel wackelt ihm mit heraushängender Zunge hinterher. Am anderen Ende trägt eine Frau ihr Kind auf dem Arm und verschwindet im Park.

Ich falte den Zettel auf und schlucke. Es sind nicht viele Informationen auf dem Zettel. Doch sie reichen, um meinen Körper kribbeln zu lassen. Mit blauem Kugelschreiber steht eine Nummer auf dem weißen Papier. Eine Handynummer. Darunter steht in krakeliger Schrift ein Name. Shane. 

Ich atme tief ein und starre auf den Zettel. Es ist seine Nummer. Seine Nummer. Shanes Nummer. Noah. Ich muss den Zettel wegwerfen, ignorieren. Wohin damit? Was, wenn Noah ihn findet? Soll ich die Nummer speichern? Nein. Ich darf das nicht.

Ich lese die Nummer nochmal, lese seinen Namen nochmal. Shane. So sieht seine Schrift aus? Ich fahre mit meinem Finger über die unregelmäßigen, kleinen Buchstaben. Shane. Mein Herz pocht wild in meiner Brust. Ich stopfe den Zettel in meine Jackentasche und setze mich in mein Auto.

Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schließe meine Augen. Seine Nummer. Er hat mit mir geflirtet, mir seine Nummer unter den Scheibenwischer geklemmt. Woher weiß er welches Auto ich fahre? Er muss es irgendwie herausgefunden haben. So wichtig ist ihm das? Ich lächle. So wichtig. Oh, das hier ist so falsch. So verdammt falsch. Ich darf mich nicht darüber freuen. Ich darf das einfach nicht.





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