Kapitel 37

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„Frau Wess, ich schicke Ihnen jemanden vorbei", sagt sie. „Frau Wess?" „Okay", sage ich. „Die Kollegen werden in ein paar Minuten bei Ihnen sein" „Danke", sage ich und lege auf. Ich lege mein Handy auf den Tisch und stehe auf. Ich muss zu Kim. Jetzt.

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Ich stehe auf, hole meinen Autoschlüssel und fahre los. Ich fahre durch die Nacht und stelle mir vor, wie Kim auf dem Schotterweg liegt. Ich stelle mir vor, wie sie im Dunkeln auf dem kalten Boden liegt, dass ihre Hose zerrissen ist und sehe überall Blut und Dreck. Ich darf sie nicht alleine lassen.

Ich fahre über die letzte Kreuzung und höre ein Auto laut hupen. Über den Rückspiegel sehe ich Scheinwerfer aufblenden und hebe entschuldigend die Hand. Ich fahre auf den Parkplatz und sehe bereits Blaulicht in der Nacht pulsieren. Ich steige aus und renne los.

„Kim!", rufe ich. Auf der Wiese und auf dem Weg sind bereits viele Menschen. Das blaue Licht pulsiert in der Nacht, ich sehe mehrere Polizeiautos und einen Krankenwagen. „Sie können hier nicht durch", höre ich plötzlich eine dunkle Stimme und spüre Hände auf meinen Schultern. Ich werde festgehalten und keuche. „Ich muss...ich bin... ich habe sie gerufen", sage ich hektisch und merke, dass mir schwindlig wird. Ich sehe den grauhaarigen Polizisten an. Seine Augen wirken freundlich und er nickt mir zu. „Kommen Sie", sagt er und schiebt mich zu einem Streifenwagen, der quer über der Wiese steht.

Im Augenwinkel sehe ich den Notarztwagen über die Wiese fahren. „Nein, ich muss zu Kim", sage ich und versuche meinen Arm zu befreien. „Ihre Freundin wird versorgt", sagt er. „Was ist mit ihr?", frage ich und versuche an ihm vorbei zu sehen. Ich sehe den dunklen Weg neben dem Fluss, sehe das Blaulicht auf der Wasseroberfläche pulsieren, sehe Menschen in roten Hosen und roten Jacken. Ich beuge mich an dem Polizisten vorbei und erkenne Kims Beine. Sie hat einen Schuh verloren.

Die Sanitäter arbeiten hektisch und ich keuche. „Kim!", rufe ich wieder und versuche mich aus dem Griff des Polizisten zu befreien, doch ich bin zu schwach. Der Polizist öffnet die Beifahrertür des Streifenwagens und sieht mich an. „Man kümmert sich um sie", sagt er sanft. „Ich will sie sehen", sage ich und versuche mich wieder aus seinem Griff zu befreien. „Das geht nicht", sagt er, „bitte setzen Sie sich" Er deutet auf den Beifahrersitz. Ich sehe das schwarze glatte Leder, höre das Funkgerät im Auto rauschen und höre eine Dame Codes durchgeben. Ein weiterer Polizist sitzt auf dem Fahrersitz. Er blickt kurz zu mir und nimmt das Funkgerät in die Hand. Ich setzte mich, stütze meine Ellenbogen auf meine Oberschenkel und vergrabe mein Gesicht in den Händen.

Hinter mir höre ich den Polizisten ins Funkgerät sprechen. Ich hebe meinen Kopf und sehe den grauhaarigen Polizisten vor mir an. „Wie geht es ihr?", frage ich. Das blaue Licht pulsiert auf seiner Uniform. Er hält einen vorbeigehenden Sanitäter am Arm fest und sagt etwas zu ihm. Der Sanitäter wirkt jung, hat blonde Haare und ein freundliches Gesicht. Er blickt zu mir, nickt, verschwindet und ich starre den Polizisten an.

„Bitte. Bitte, sagen sie es mir. Ist sie schwer verletzt?", frage ich wieder. Er holt Luft, doch bevor er antworten kann schiebt sich der junge Sanitäter vor ihn und geht vor mir in die Hocke. „Hallo", sagt er sanft, „ich bin Lukas" „Was ist mit Kim?", frage ich ihn. „Sie wird versorgt", sagt er und richtet sich etwas auf. Er beugt sich zu mir ins Auto und legt eine Decke um meine Schultern. Erst jetzt merke ich, dass ich keine Jacke angezogen habe.

„Danke", flüstere ich und versuche zu lächeln. Er geht wieder vor mir in die Hocke. „Wie fühlen Sie sich?", fragt er sanft. „Ist meine Freundin schwer verletzt?", frage ich wieder. Er legt mir seine Hände auf die Knie und ich sehe die dünnen, weißen Handschuhe. „Sie wird gerade versorgt und dann ins Krankenhaus gebracht", sagt er. „Was. Fehlt. Ihr. Verdammt?", frage ich laut. Jeder weicht mir aus. Ich will es wissen. Ich muss wissen, wie es ihr geht. „Das kann ich Ihnen nicht sagen", sagt er und blickt kurz zur Seite. „Wir benötigen Ihre Personalien", sagt der Polizist plötzlich und stellt sich näher zu uns.

Ich schließe meine Augen und nenne ihm meinen Namen. Er fragt nach meinem Ausweis, doch ich habe ihn Zuhause vergessen. Ich bin einfach losgefahren. „Der Notarzt kommt in ein paar Minuten zu Ihnen und gibt Ihnen was zur Beruhigung. Und dann bringen wir Sie ins Krankenhaus", sagt der junge Sanitäter und sieht mich an. Erst jetzt merke ich, dass ich am ganzen Körper zittere.

„Ich möchte nicht ins Krankenhaus. Können Sie ihn anrufen? Kann er herkommen?", frage ich den Sanitäter. „Wen soll ich für Sie anrufen?", fragt er und sieht mich eindringlich an. Ich lege meine Hand auf meine Hosentasche, möchte mein Handy holen, doch ich spüre es nicht. Ich erinnere mich, dass ich es Zuhause auf den Tisch gelegt habe. Ich habe es vergessen. „Wen soll ich für Sie anrufen?", fragt er nochmal.

„Noah...", sage ich und spüre, wie mir noch mehr Tränen über die Wange laufen. „Das ist kein Problem", sagt er und holt ein Handy aus seiner Brusttasche. „Okay", sagt er, nickt und entsperrt das Display. „Wie ist seine Nummer?", fragt er und hält den Daumen über das Display. Ich sage ihm die ersten Zahlen und erstarre. Ich habe sie vergessen. Er hört das Tippen auf und sieht mich fragend an.

„Weiter weiß ich nicht", sage ich. „Okay", sagt er und löscht die Zahlen. „Kennen Sie eine andere Nummer, die ich für Sie anrufen kann?", fragt er sanft. „Nein", flüstere ich. „Okay. Ich versuche die Nummer herausfinden", sagt er und sieht den Polizisten auf dem Fahrersitz an. „Wie ist ihr Name?", fragt er. „Lilia Wess", sage ich. „Okay. Und wie ist sein Name?" „Noah Bloom", sage ich und da tauchen die Zahlen auf. „7, 3", sage ich plötzlich. Der Sanitäter sieht mich fragend an.

„Die letzten Zahlen", sage ich leise. „Oh. Okay. Ich habe die Nummer schon wieder gelöscht. Können Sie sie mir nochmal von vorne sagen?", fragt er und ich nicke. Ich diktiere ihm die ersten Zahlen bis zu der Stelle, an der ich nicht mehr weiter wusste. „und dann 7 und dann 3", sagt er. Ich nicke und er lächelt. Er zwinkert mir zu, steht auf und hält sich das Handy ans Ohr. Er macht ein paar Schritte in die Nacht. Ich sehe seine rote Hose, die schwarzen Stiefel und die weißen Handschuhe. Leise höre ich seine Stimme und schlinge die Decke fester um meinen Körper. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt er langsam wieder auf mich zu, steckt das Handy in seine Brusttasche und geht wieder vor mir in die Hocke.

„Er wird gleich hier sein. Ich gebe dem Arzt Bescheid", sagt er und sieht mich an. „Sie sind ja nicht schwanger, oder?", fragt er. Seine Frage trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. „Was?", frage ich und blinzle schnell. „Wegen dem Beruhigungsmittel", sagt er entschuldigend. „Nein", sage ich leise. „Okay. Ich hole den Arzt. Ihr Bekannter ist sicher auch gleich hier", sagt er und geht zum Krankenwagen. Mein Bekannter? Ich schließe meine Augen und nicke.

„Wo ist sie?", höre ich Noahs Stimme nach einer Weile in der Ferne. Ich öffne meine Augen und sehe ihn über den Kiesweg rennen. Ein Mann deutet auf mich. Noah rennt zur mir und bleibt vor mir stehen. Langsam geht er in die Hocke. Er wirkt einen Moment unsicher, aber legt dann seine Hände auf meine. Seine Nähe ist seltsam. Ich kann nicht sprechen, ich sehe ihn einfach nur an. Noah. Mein Noah. Tränen laufen mir über die Wangen und er zieht meine Hände zu sich, legt sie sich um die Schultern und ich genieße seine Nähe. Ich rieche seine Vertrautheit, spüre seine Geborgenheit und schluchze.

Ich spüre, dass er mir über die Haare streicht und weine noch mehr. „Sch...alles wird wieder gut. Du kennst doch Kim. Sie schafft das", flüstert er und ich nicke. Ich löse mich von ihm und sehe ihn an. Er runzelt die Stirn und streicht mir eine Strähne hinter mein Ohr. Er legt mir seine Hand an meine Wange und wischt meine Tränen weg. Ich blinzle und drehe mich zu Kim.

Ein Sanitäter rennt über die Wiese, ein anderer arbeitet hektisch im Krankenwagen. Der Polizist mit den grauen Haaren steht mit dem jungen Sanitäter bei einem Mann. Sie haben ihm eine Decke über seine Schultern gelegt. Ich will hier weg. Ich will nicht ins Krankenhaus. Ich möchte nach Hause. Mit Noah.

Ich glaube, es würde niemand bemerken, wenn ich jetzt gehen würde. „Bringst du mich nach Hause?", frage ich Noah. „Brauchst du keinen Arzt?", fragt er. „Der Arzt war schon bei mir. Er sagt, es ist alles in Ordnung und ich darf nach Hause", lüge ich. „Okay", sagt er. Er erhebt sich langsam und streckt mir seine Hand entgegen. Ich lege meine kalte Hand in seine und spüre seine Wärme.

Er umschließt meine Hand und zieht mich vorsichtig nach oben. Die Kälte kriecht unter meine Decke, ich bekomme Gänsehaut. Noah zieht die Decke fester um meinen Körper und legt seinen Arm um mich.

Im Augenwinkel sehe ich einen weiteren Polizeiwagen über die Wiese fahren. Noah schiebt mich sanft zu seinem Auto. Mein Herz klopft schnell und ich hoffe, dass uns niemand sieht. Schweigend gehen wir zu seinem Jeep. Er steht quer über dem Parkplatz, das Licht ist noch an. Er öffnet mir die Beifahrertüre und ich klettere ins Auto.

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