Kapitel 44

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Meine Handgelenke brennen, mein Rücken schmerzt. Vorsichtig versuche ich hinter meinem Rücken die Fesseln zu lösen, doch sie sind zu fest. Shane steht vor mir, doch ich kenne ihn nicht mehr. Seine Haare sind zerzaust, sein Gesicht wirkt grau und das Blau seiner Augen ist hell. Langsam geht er vor mir in die Hocke. Ich möchte zurückweichen, doch der harte Stuhl drückt schmerzend gegen meinen Rücken.

Er hebt seine Hand und fährt sich damit durch die Haare. Die Klinge seines Messers blitzt unter der Deckenlampe und blendet mich. Ich kneife meine Augen zusammen. Plötzlich spüre ich das kalte Metall der Klinge heiß auf meiner Haut. Er streicht mir mit der Klinge die Haare aus dem Gesicht. Mein Herz pumpt und lässt meinen Körper beben.

„Lilia", flüstert er. „ich habe dich etwas gefragt" Langsam öffne ich meine Augen wieder und erstarre. Sein Gesicht ist so nah. Meine Muskeln sind zum zerreißen gespannt, ich halte meinen Atem an. Er hat mich so getäuscht. Ich habe ihm alles geglaubt. Mein Blick verschwimmt, ich blinzle und eine Träne läuft über meine Wange. „Liebst du mich, Lilia?", fragt er wieder und legt die flache Klinge unter mein Kinn.

„Du hast Nathalie umgebracht", flüstere ich. Shane lehnt sich etwas zurück. Ich beobachte das Messer in seiner Hand. Er lacht. Ich drücke mich noch weiter gegen die Stuhllehne. „Geb jetzt ja nicht mir die Schuld. Ich habe in ihrem Blick gesehen, dass sie das auch wollte. Sie wollte doch zu ihm. Sie wollte das so. Sie hat ja förmlich darum gebettelt, dass ich sie umbringe", sagt er und sprich mit jedem Wort lauter. „Außerdem wolltest du das doch auch. Du wolltest mit mir zusammen sein. Du wolltest mich für dich alleine haben", sagt er näher sein Gesicht. Es ist so nah an meiner Haut, dass ich nicht atmen kann.

„Weißt du noch, als du joggen warst? Ich habe deinen Blick gesehen. Erinnerst du dich an den Moment, Prinzessin? Er war wunderschön", sagt er und ich erinnere mich. Ich erinnere mich an die Musik aus meinen Kopfhörern, an die Hochzeitsvorbereitungen, an meine dröhnenden Schritte auf dem Weg und an seine blauen Augen unter der grauen Kapuze.

„Du bist mir entgegengekommen, mit deinen gelben Schuhen. Du warst so in Gedanken vertieft. Am liebsten wäre ich stehengeblieben und hätte dich angefasst", sagt er und fährt mit seiner Hand über meine Wange. Seine Berührung verätzt meine Haut, ich keuche und drehe meinen Oberkörper so weit ich kann.

„Ja, Prinzessin, du wolltest das", sagt er wieder. „Nein", sage ich laut und erkenne meine Stimme nicht wieder. „Nein?", fragt er und lacht. „Aber ich habe dich doch gefragt, ob ich dich küssen soll" Er streicht mit seinem Finger über meine Lippen. Ich presse sie aufeinander. Die Erinnerung an seine raue Stimme in der Dunkelheit des Hotelzimmers schmerzt in meinen Gedanken. Wie er sich zu mir gebeugt und gefragt hat: Willst du, dass ich dich küsse? Eine Träne rollt über meine Wange. Ich habe ja gesagt, verdammt.

„Du wolltest das doch alles so", sagt er wieder. „Das stimmt nicht", schreie ich. „Nein?", fragt er, „Ich habe dich zu nichts gezwungen", sagt er und ich erinnere mich an seine Nachricht im Auto, an die Frage, ob wir uns wiedersehen. Ich habe ja gesagt. Ich erinnere mich an die Fragen an meiner Haut, und habe das Gefühl, dass mich die Erinnerungen von innen heraus verbrennen. Jede Frage habe ich mit ja beantwortet. Mein Körper fühlt sich heiß und kalt zugleich an, ich fühle Schmerz und fühle mich, als würde ich erdrückt werden. Ich bekomme kaum Luft und stehe unter Strom.

„Lilia, liebst du mich?", fragt er wieder. „Nein!", schreie ich und ich sehe, wie sich sein Blick verändert. Langsam beugt er sich zu mir. Ich presse meinen Oberkörper gegen die Stuhllehne und atme schnell. „Du lügst", knurrt er. „ Du hast dich doch verliebt. Du bist doch ständig rot geworden, hast gestottert, mit deinen Fingern gespielt. Das war doch echt", sagt er. „Das hast du nicht gespielt!", schreit er und mein Trommelfell vibriert.

„Ich liebe dich nicht", schreie ich. „Du liebst mich", sagt er so langsam, dass ich eine Gänsehaut bekomme. „Ich weiß, dass du mich liebst. Aber ich weiß nicht, ob du meine Liebe verdient hast", sagt er langsam und ich sehe, wie sich sein Gesichtsausdruck wieder verändert. Er wirkt, als ob er Schmerzen hätte. „Du musst dich anstrengen, Prinzessin", sagt er langsam und fährt sich mit der Hand durch die Haare. „Weißt du, ich habe jemanden kennengelernt. Ich glaube, sie wird mich mehr lieben, als du es je können wirst"

Er nimmt mein Gesicht in seine Hände. Mein Herz pumpt wie verrückt, ich kann meine Atmung nicht mehr kontrollieren. Ich atme und atme, doch bekomme keine Luft. „Es wird nur noch Eine geben", sagt er und beugt sich zu mir. Ich presse meine Lippen fester aufeinander, als sein heißer Atem mein Gesicht streift. Ich spüre, dass er mich gleich küssen wird. Ich spüre, dass es ein Abschied wird. Ich kann fühlen, dass seine Lippen nur noch ein paar Millimeter entfernt sind. Doch er berührt sie nicht.

Plötzlich legt sich eine seltsame Kälte über mein Gesicht und ich öffne meine Augen. Shane hat sich von mir entfernt. Er steht in der Mitte des Raumes und blickt an die Decke. Und plötzlich höre ich es auch. Dumpfe Geräusche über uns. Was ist das? Die Geräusche sind unregelmäßig und schnell. Wie Getrampel. Schritte. Ich höre Stimmen und weiß, dass das meine Rettung ist.

Ich schreie los, schreie, so laut ich kann. Ich möchte Hilfe schreien, doch mein Schrei verwandelt sich in ein Kreischen. Shane reißt die Augen auf, kommt mit schnellen Schritten zu mir und legt seine Hand grob auf meinen Mund. „Schhhh, Prinzessin", sagt er und stellt sich hinter mich. Ich spüre meinen Hinterkopf an seiner Brust, die Stuhllehne bohrt sich in meinen Rücken. Ich versuche den Schmerz zu verdrängen.

Hilfe ist über mir und sie müssen mich hören. Ich möchte schreien, doch Shanes große Hand bedeckt meinen Mund und meine Nase. Ich atme meine heiße, verbrauchte Luft ein und merke, dass ich Sauerstoff benötige. Ich reiße meinen Kopf von der einer Seite auf die andere, doch er ist zu stark.

Ich glaube, er merkt nicht, dass ich keine Luft bekomme. Meine Lunge schnürt sich zusammen. Ich brauche Sauerstoff. Ich möchte Atmen, doch seine Hand ist zu fest auf meinem Gesicht. Ich merke, wie ich ruhiger werde, und gleichzeitig Panik bekomme. Mein Körper ist zum zerreißen gespannt, ich muss einen Atemzug machen. Nur einen. Einen einzigen.

Ich versuche mich zu befreien, doch ich habe keine Kraft. Shane steht hinter mir und presst seine Hand auf mein Gesicht. Diese eine Begegnung mit ihm, diese eine Sekunde hat mein Leben zerstört. Er ist verrückt, er ist ein Psychopath. Er hat sich in ein Mädchen verliebt und ihren Freund umgebracht. Er dachte, Noah würde sie ihm wegnehmen und hat sie entführt. Er hat Noah verfolgt, wollte ihn umbringen. Doch er hat mich gesehen und versucht mich zu manipulieren. Er wollte, dass ich mich verliebe und genau das habe ich getan. Ich habe ihm alles geglaubt, habe alles aufs Spiel gesetzt und damit Noah und mein Leben verloren.

So viele Gefühle, so viele Gedanken jagen durch meinen Körper, doch ich bin zu schwach, sie zu Ende zu denken. Tränen laufen über meine Wange und stoppen an seiner Hand. Mein Herz schlägt langsamer, die Erinnerungen verblassen. Ich glaube, ich bewege mich, doch ich kann meinen Körper nicht mehr spüren. Ich muss atmen, nur ein Mal. Nur noch ein einziges Mal.

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