Kapitel 10

8.7K 589 106
                                    

Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schließe meine Augen. Seine Nummer. Er hat mit mir geflirtet, mir seine Nummer unter den Scheibenwischer geklemmt. Woher weiß er welches Auto ich fahre? Er muss es irgendwie herausgefunden haben. So wichtig ist ihm das? Ich lächle. So wichtig. Oh, das hier ist so falsch. So verdammt falsch. Ich darf mich darüber nicht freuen. Ich darf das einfach nicht.

- - -

Der Zettel mit Shanes Nummer steckt wie ein Fremdkörper in meiner Jackentasche. Es fühlt sich an, als würde er leuchten und zappeln, damit Noah ihn entdeckt. Ich muss den Zettel verschwinden lassen. Will ich das? Will ich seine Nummer verschwinden lassen? Ich weiß es nicht.

Ich parke vor unserem Haus, schalte den Motor ab und krame nach meinem Handy. Ich ziehe den Zettel aus meiner Tasche, lese seine Nummer nochmal, seinen Namen, betrachte seine Schrift. Das hier ist so falsch. So falsch. Ich seufze und tippe auf das Display und entdecke drei verpasste Anrufe und eine Nachricht von Kim. Ich öffne ihre Nachricht.

Woher kennt Noah dieses Mädchen??? - Mein Herz schläge schneller. Welches Mädchen? Ich überlege kurz, ihr zurückzuschreiben. Ich tippe: Welches Mädchen? Doch ich kann nicht auf die Antwort warten. Ich muss wissen, um was es geht. Jetzt. Ich lösche die Nachricht, tippe auf den grünen Hörer und warte auf das Klingeln in der Leitung.

„Oh mein Gott, Pumpkin. Endlich rufst du zurück. Ich wollte dir echt keine Angst machen oder so, aber du weißt ja, wie Männer sind. Und naja, bei Noah kam mir das einfach komisch vor. Ach, ich weiß auch nicht. Wie geht es dir jetzt?", plappert Kim viel zu laut. Ihre Worte vibrieren an meinem Ohr.

„Wovon redest du, verdammt?", ich klinge härter als beabsichtigt und murmle „entschuldige", doch sie plappert bereits unbeirrt weiter.

„Was? Du hast es noch nicht gesehen? Ich rede davon, dass Noah das vermisste Mädchen kennt", plappert sie genauso hektisch wie davor.

„Welches vermisste Mädchen?", frage ich.

„Na, du weißt schon. Das Mädchen, das sie suchen. Na, also das Pärchen. Also ihr Freund wird doch schon länger vermisst und jetzt ist sie auch verschwunden", sagt sie energisch und ich muss mich konzentrieren, damit ich ihr folgen kann. Aber ich erinnere mich. Ja, es war groß in der Presse.

„Wieso denkst du, dass Noah sie kennt?", schon wieder klinge ich härter als gedacht.

„Facebook?", fragt sie.

„Kim", sage ich mit fester Stimme und atme einmal tief durch. Ich habe keine Lust auf Ratespiele, „was ist auf Facebook?"

„Noah kommentiert und liked ihre Fotos?", fragt Kim, als müsste mir das inzwischen klar sein.

„Was hat das eine mit dem anderen zu tun?", frage ich obwohl ich mir die Antwort bereits denken kann. Ich versuche stärker zu klingen, als ich mich im Moment fühle.

„Warte, ich lese es dir vor", sagt sie und ich höre, dass sie sich das Telefon vors Gesicht hält und darauf herumtippt.

„Hörst du?", fragt sie. Ihre Stimme klingt dumpf. „

Ja", sage ich laut obwohl ich weiß, dass sie mich nicht hören kann.

„Ich lese dir erst mal die Fotokommentare vor, okay?", fragt sie. Diesmal antworte ich nicht.

„Also unter dem einen steht nur ein Wort", sagt sie und macht eine kurze Pause. Die Stille dröhnt in meinen Ohren, ich höre Kim atmen. Und dann sagt sie das Wort. Das Wort ist eindeutig. Es ist ein schönes Wort. Es ist ein Wort, welches niemandem Angst machen sollte. Dennoch schießt es mir wie tausend Messerstiche durch den Körper, hinterlässt eine blutige Spur auf meinem Herz. Es ist ein Wort, welches ein Mann nicht einfach so sagen sollte. Es ist das Wort, aus dem Märchen gemacht sind und es ist das Wort, das er noch nie zu mir gesagt hat. Schönheit.

„Schönheit, hat er geschrieben. Willst du wissen, was auf dem Foto zu sehen ist?", fragt Kim und ich schüttle den Kopf, denn ich kann es mir denken.

„Pumpkin?", fragt sie lauter und ich höre, dass sie das Handy wieder am Ohr hat. „Nein", sage ich leise.

„Soll ich dir die anderen Kommentare auch vorlesen?", fragt sie. Schönheit. Damit ist alles gesagt. Was soll da noch kommen? Dieser eine Kommentar hallt schrill durch meine Adern und ich weiß nicht, ob ich das, was noch kommt aushalten kann. Doch ich will es wissen. Ich muss es wissen.

„Ja", flüstere ich. Ich schlucke und schließe meine Augen.

„Also das hier ist eigentlich nur so ein Landschaftsfoto. Mit Bergen und Wiesen und so. Sieht aus wie in Österreich. Darunter hat er geschrieben: schöne Erinnerungen", plappert sie. Schöne Erinnerungen? War er mit ihr dort? Wann soll das gewesen sein? Ich merke, wie sich mein Magen zusammenzieht. Ich atme schnell. Wie lange geht das schon?

„Und auf ihrer Pinnwand hat er gestern geschrieben: Bitte komm bald zurück. Und heute hat er geschrieben: Ich wollte das nicht. Und, ah hier ist ein neuer Eintrag. Was? Spinnt der? Da steht: Ich vermisse dich", liest sie vor und ich höre, dass sie jetzt den Hörer wieder am Ohr hat.

„Was?", keuche ich. Unzählige Gedanken schießen schmerzend durch meinen Kopf, rauschen durch mein Blut, zerquetschen mein Herz. Ich vermisse dich. Schönheit. Ich wollte das nicht. Was wollte er nicht? Woher kennt er dieses Mädchen?

„Kanntest du sie auch?", Kim reist mich aus meinen Gedanken.

„Nein. Nein, ich kannte sie nicht. Ich wusste nicht mal, dass er sie kennt", sage ich leise.

„Was denkst du, was das bedeutet?", fragt sie mich. Doch es ist genau die Frage, die ich mir auch stelle. Es ist die Frage, auf die es eigentlich nur eine Antwort gibt. Er betrügt mich. Verdammt, er betrügt mich mit einem Mädchen, das jetzt vermisst wird. Was ist hier los? Wir lieben uns, wir wollen heiraten. Wieso macht er das? Und dann noch in der Öffentlichkeit.

„Denkst du, er betr...?", frage ich, doch Kim unterbricht mich.

„Lilia, hör zu, ich weiß es nicht. Ich kann mir das eigentlich nicht vorstellen. Du kennst ja Noah. Aber das hier klingt irgendwie schon danach", sagt sie schnell.

„Was soll ich jetzt machen?", frage ich sie.

„Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, du musst mit ihm reden.", sagt sie mit fester Stimme. Sie hat recht. Ich werde ihn fragen, dann wird sich alles aufklären.

„Okay", flüstere ich. Die Tränen laufen mir über die Wangen.

„Soll ich vorbeikommen?", fragt sie. Ich schüttle den Kopf.

„Pumpkin?", höre ich sie leise fragen.

„Nein", sage ich mit zittriger Stimme, „ich schaff das schon. Danke, Kim"

Nachdem ich aufgelegt habe, tippe ich auf das blaue Symbol. Ich muss es sehen, sonst glaube ich es nicht. Obwohl ich auf das, was kommt vorbereitet bin, trifft es mich wie ein Schlag. Mein Magen zieht sich noch ein Stück mehr zusammen.

Er hat den Zeitungsartikel über das vermisste Mädchen geteilt. Unter dem Artikel stehen die Sätze, die Kim mir vorgelesen hat. Ich würde gerne auch die anderen Kommentare sehen, doch ich habe keine Kraft, um auf ihr Profil zu klicken und mir ihre Fotos anzusehen. Mein Blick verschwimmt, ich spüre wie sich meine Augen mit Tränen füllen.

Ich schließe die App und merke, dass ich in meiner anderen Hand noch immer Shanes Nummer halte. Die Tränen laufen mir über die Wangen, hinterlassen eine salzige Spur. Meine Brust bebt, die Luft vibriert in meinen Lungen. Ich merke, dass ich lache. Ich weine und lache gleichzeitig. Das ist mir alles zu viel. Mein Verlobter hat mich mit dem vermissten Mädchen betrogen. Wir haben uns wegen einer Präsentation gestritten, von der ich nichts wusste. Weil ich ihm nicht zuhöre. Weil ich an einen anderen Kerl denke. Ständig.

Der Zettel mit seiner Nummer vibriert in meiner Hand. Ich wische mir meine Tränen von der Wange, und stecke Shanes Nummer zurück in meine Jackentasche. Ich muss mit Noah reden. Ich muss wissen, was das alles zu bedeuten hat.



LOVE MEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt