Der nächste Tag neigt sich bereits seinem Ende zu und die Sonne senkt sich dem Horizont entgegen. Mein Traum letzte Nacht hat mich noch immer nicht losgelassen. Unablässig spielen sich die Szenen erneut vor meinem inneren Auge ab, ständig sehe ich mich mir selbst gegenüber. Mit jedem Mal kommen mir die Bilder noch realer vor, als würden sie zumindest ein Körnchen Wahrheit beinhalten. Mein Herz und mein Verstand liefern sich nach wie vor einen erbitterten Kampf. Es ist, als würden die beiden auf einer schmalen Klippe inmitten eines Gefühlsmeeres stehen, die ständig vom tosenden Sturm meiner Gedanken überspült wird. Bei jedem Schritt nach vorne oder zurück könnte ein Fuß den Halt verlieren und abrutschen. Mein Herz fordert lautstark sein Recht ein, sehnt sich danach, die Gefühle nicht zurückhalten zu müssen. Mein Verstand hält dagegen und die Vernunft steht ihm bei. Nur das Gewissen schwankt. Es haben sowohl Herz als auch Verstand Recht, doch es geht hier nicht nur um mich. Es geht vielmehr um Kaspian und alle anderen. Ich bin derart mit diesem Duell beschäftigt, dass ich den ganzen Tag über kaum gesprochen oder gegessen habe. Keine Minute kann ich ruhig sitzen, deshalb halte ich mich überwiegend auf dem Vorderdeck auf, in der Nähe des hoch aufragenden Drachenkopfes. Die frische Seeluft tut gut und macht den Kopf etwas klarer. Ich stehe mit verschränkten Armen ganz vorne auf dem Schiff und halte mein Gesicht in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Einige Haarsträhnen haben sich aus meinem Zopf gelöst und tanzen im Wind um meine Wangen. Plötzlich legt sich eine warme Hand auf meine Schulter. Ich zucke unmerklich zusammen, ich habe die sich nähernden Schritte nicht gehört. Dennoch lasse ich meine Augen geschlossen.
» Ist alles in Ordnung? «, fragt Kaspians Stimme neben mir. Ich kann nicht sofort antworten. Meine Zunge scheint an meinem Gaumen zu kleben.
» Ja «, sage ich schließlich abwesend, nachdem ich den Kloß in meinem Hals hinuntergeschluckt habe,
» Natürlich «. Was sollte ich auch anderes erwidern? Sollte ich ihm von dem Chaos in meinem Inneren erzählen? Sollte ich ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe und trotzdem nicht lieben kann? Nicht lieben darf? Die Frage ist nur, würde er es überhaupt verstehen?
» Luna... «, murmelt er und ich spüre seinen Blick förmlich auf mir ruhen. Ich atme einmal tief durch, öffne die Augen und drehe mich zu ihm. Ich muss etwas hochsehen, um ihn direkt ansehen zu können. Seine Hände umschließen nun sanft die meinen und legen sie auf seine Brust.
» Kaspian... «, setze ich an, doch schon weiß ich nicht mehr weiter. Er lächelt nur dieses typische, warme Lächeln und beugt sich etwas vor.
» Ich...ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist «, sage ich schnell, bevor sich unsere Lippen treffen.
» Ob was eine gute Idee ist? «, fragt er nun nach und richtet sich wieder auf.
» Du...Du bist ein König, ich bin nur ein einfaches Mädchen. Weder adelig, noch von hohem Stand. Niemand...ich gehöre nicht an deine Seite «, erkläre ich und meine Stimme wird dabei immer leiser.
» Du bist kein einfaches Mädchen, Luna. Du bist so viel mehr als das, du bist etwas ganz Besonderes «, meint er nach kurzem Schweigen,
» Niemand würde jemals auf die Idee kommen, dich als zukünftige Königin anzuzweifeln «. Seine Augen funkeln erwartungsvoll, er meint es ganz und gar ernst. Ein kleines Lächeln huscht über mein Gesicht, doch es ist so schnell verschwunden wie es gekommen ist.
» Ich verstehe nichts vom Regieren, ich führe Befehle aus. Ich könnte nicht... «, ich werde unterbrochen.
» Du kannst, Luna, vertraue mir! «, sagt er,
» Das Volk braucht und liebt dich doch schon jetzt, genauso wie ich dich brauche und liebe... «. Sein Blick fängt den meinen ein und hält ihn fest. Nach einer Weile schlage ich die Augen nieder. Meine Gedanken und Gefühle wirbeln herum wie ein Boot in einem Sturm, der das Meer zu turmhohen Wellen auftürmt und zusammenstürzen lässt.
» Ich vertraue dir «, flüstere ich, den Kopf noch immer gesenkt,
» Das habe ich schon immer, das werde ich immer. Du warst es, der Narnia aus der Dunkelheit geführt und nun wieder zu einem blühenden Land gemacht hat. Du bist es, auf den wir alle unsere Hoffnung gesetzt haben und noch immer tun. Dein Volk steht hinter dir...und so auch ich «. Die letzten Worte werden beinahe von dem neuerlichen Kloß in meinem Hals erstickt. Mein Blick verschwimmt, verschleiert von meinen Tränen. Im Moment kenne ich mich selbst nicht mehr. Eine Kriegerin weint nicht, ich weine nicht! Da fühle ich eine Hand unter meinem Kinn, die meinen Kopf etwas anhebt und mich somit zwingt, Kaspian anzusehen. Auch in seinen Augen schimmert etwas. Liebevoll streicht er mir einige Haarsträhne aus dem Gesicht.
» Du sollst nicht hinter mir stehen «, sagt er und drückt meine Hand,
» Deshalb bitte ich dich, als meine Königin neben mir zu stehen «. Jetzt rollt eine Träne meine Wange hinab und hinterlässt eine salzige Spur, der weitere Tränen folgen. Es sind keine Tränen der Trauer, es sind Tränen des Glücks. Ich bin noch immer verwirrt, unsicher und noch immer drängt sich dieses andere Ich in den Vordergrund meiner Gedanken. Diese andere Luna schürt meine Angst, jemanden in Gefahr zu bringen, Kaspian in Gefahr zu bringen. Es mag sein, dass mir diese andere vieles nehmen kann, doch eines kann sie mir nicht nehmen. Die Hoffnung. Dieser König ist die Hoffnung und ich weiß, dass ihm nicht nur meine volle Loyalität, mein vollster Gehorsam gehört, sondern auch meine Zuneigung, meine Liebe, mein Herz.
Kaspian nimmt mein Gesicht in die Hände und wischt die Tränen fort. Er wartet noch immer auf eine Antwort.
» Du weißt, was ich für dich empfinde «, flüstere ich, nehme seine Hand und lege sie an die Stelle, an der mein Herz schlägt,
» Es gehört dir «. Augenblicklich legt sich ein erleichtertes Lächeln auf seine Lippen und wir sehen uns lange an. Erst jetzt nehme ich das Geschehen um mich herum wieder richtig wahr. Das Gemurmel der Matrosen bei der Arbeit, das leise Knarzen der Planken. Der Wind spielt mit den Wellen, die – gekrönt von weißer Gischt – durch das tiefblaue Wasser pflügen und sich am Rumpf der Morgenröte brechen. Die Sonne, die nun schon beinahe ganz hinter dem Horizont verschwunden ist. Nur noch ein kleiner Teil des feuerroten Rundes spendet etwas Licht. Der Mond ist bereits aufgegangen, die silberne Sichel ist kaum zu erkennen. Rundherum glitzern die ersten Sterne.
» Ich habe nur eine Bitte «, sage ich und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf mein Gegenüber. Er streicht gedankenverloren über mein Haar, den Kopf leicht schiefgelegt. Als ich das Wort an ihn richte, suchen seine Augen meinen Blick. Ich atme tief durch
» Lass mir etwas Zeit «. Einen Moment hält er Inne, dann neigt er wohlwollend den Kopf
» Wie du wünschst, meine Königin «.
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Die Reise des Löwen | Eine narnianische Geschichte
Fanfiction"An deiner Seite bin ich immer bereit." Lunas Reise über Narnias Grenzen hinaus führt sie nicht nur zum äußersten Osten; sie findet eine Bestimmung, die über ihre Aufgabe, den König zu schützen, hinausgeht. März 2022: 3. Platz in FanFiction (The Bor...