NACHDEM SICH DAS Wasser der hohen Wellenwand wieder beruhigt hat, wendet sich Aslan uns zu.
» Nun, meine Kinder, ist es auch für euch an der Zeit, nach Hause zurückzukehren «, sagt der Löwe mit seiner tiefen und doch so sanften Stimme. Und so steigen wir in das Beiboot, das für uns beide allein viel zu groß wirkt, und werden schon von der Strömung erfasst und davongetragen. Der große Leu am Strand wird immer kleiner, bis er schließlich nur noch ein goldener Fleck in der Ferne ist, umgeben von dem Blau der Wellenwand. Kaspian und ich schweigen lange, während der Duft der weißen Lilien um uns herum wabert wie eine dichte Nebelwolke. Ich versuche, mir einen Reim aus all den neuen Bildern zu machen, die mir Aslan wieder in Erinnerung gerufen hat. Noch scheinen sie nicht wirklich einen Sinn zu ergeben. Was auch immer ich da sehe, vielleicht will ich es auch gar nicht begreifen.
» Es ist schon seltsam «, meint Kaspian irgendwann und ich richte meine Aufmerksamkeit auf ihn,
» Zu sechst kamen wir her und zu zweit verlassen wir diesen Ort wieder «.
» Ja «, erwidere ich schlicht und blicke mit zusammengekniffenen Augen zurück. Doch am Horizont zeichnet sich lediglich das Weiß der Blüten ab, die die Wasseroberfläche dicht an dicht bedecken. Nichts ist mehr zu sehen von dem goldweißen Strand, der Welle und dem Löwen. Es hätte beinahe wie ein Traum wirken können, wenn nicht unsere vier Freunde fehlen würden. Da lehnt sich Kaspian aus dem Boot und pflückt vorsichtig eine Lilie aus dem Wasser. Dann beugt er sich vor und steckt sie mir ins Haar. Heute Morgen habe ich ganz vergessen, es zu dem gewohnten Zopf zu flechten und so kann der Wind ungehindert damit spielen. Mit einem liebevollen Lächeln streicht mir Kaspian über die Wange.
» Du bist wunderschön «, flüstert er. Nun bin ich es, die sich vorbeugt und ihn an sich zieht. Seine Arme umschlingen mich – bestimmt und zärtlich zugleich – und mit einem gehauchten
» Ich liebe dich «, verschließt er unsere Lippen.
~*~
Einige Tage später haben wir die Insel des Sterns erreicht, wo wir von Ramandu und seiner Tochter empfangen werden. An Aslans Tafel erwarten uns die drei Lords – wach und nicht mehr in einen tiefen Zauberschlaf versunken. Lord Revilian, Lord Argoz und Lord Mavramorn kommen bereitwillig mit uns an Bord der Morgenröte und so segeln wir gen Westen, zurück nach Narnia. Der Weg ist lang und es wird noch eine ganze Weile dauern bis wir den Hafen bei Feeneden erreichen. Drinian sagt, in vier Monaten werden zumindest die Sieben Inseln in Sicht kommen. So habe ich mehr als genug Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Die Matrosen und alle anderen Narnianen an Bord sind guten Mutes und freuen sich auf die vertrauten Lande. Ich kann sie gut verstehen, denn ich vermisse die grünen Auen und Wälder Narnias ebenso. Das einzige, das diesen Frohmut trübt, sind die Bilder der neuen Erinnerungen. Sie bringen es fertig, mich an meinem Leben – so wie es bisher immer gewesen ist – zweifeln zu lassen. Alles, was der Zentaur Chiron jemals über Bestimmung sagte, meine Bestimmung, all das scheint seinen Wert langsam zu verlieren. Vielleicht würde es mir beim Ordnen helfen, wenn ich mit jemandem darüber spreche, doch ich könnte beim besten Willen niemandem erzählen, was ich da anscheinend erlebt habe. Nein, das wäre mir einfach unmöglich. Diesbezüglich bleibe ich auf mich allein gestellt.
So vergeht Tag für Tag und Seemeile für Seemeile wird zurückgelegt. Oft finde ich keinen Schlaf und manchmal ändert auch Kaspians Nähe nichts daran. Diese Nacht scheint wieder eine durchwachte zu werden. Leise steige ich aus meiner Hängematte und werfe einen Blick auf Kaspian. Der junge König schlummert friedlich in der Hängematte neben der meinen. Ein Lächeln umspielt meine Lippen, doch ich widerstehe dem Drang, mich zu ihm zu kuscheln. Nicht nur, weil ich ihn nicht wecken möchte, sondern auch, weil ich nach wie vor auf ihn Acht geben muss. Was gäbe es für ein Bild, wenn ich plötzlich nicht mehr wachsam und ruhig, sondern regelrecht verweichlicht wäre? Auf längere Sicht würde man mich doch nicht mehr ernst nehmen und schon gar nicht dulden, dass ich mich um das Heer kümmere. Ich schüttle den Kopf und möchte mich gerade auf den Weg an Deck machen, da regt sich Kaspian. Regungslos verharre ich an Ort und Stelle, um kein Geräusch zu machen, dass seinen Schlaf stören könnte. Dafür ist es allerdings schon zu spät, er schlägt die Augen auf.
» Luna? «, murmelt er und setzt sich auf.
» Kannst du nicht schlafen? «, fragt er – langsam etwas munterer. Mit einem schmalen Lächeln trete ich an sein Lager und streiche ihm über die Schulter.
» Nein «, flüstere ich,
» Aber deshalb solltest du dir deinen Schlaf nicht rauben lassen «.
» Ach was, das halte ich schon aus. Wenn du schon die Nacht durchwachst, werde ich es mir jetzt nicht nehmen lassen, dir Gesellschaft zu leisten «, entgegnet er, steht auf und schlingt seine Arme um meine Taille.
» Wenn du darauf bestehst «, erwidere ich verschmitzt. Sanft zieht er mich an sich und haucht mir einen Kuss auf die Stirn
» Das tue ich «, meint er,
» Komm, gehen wir nach oben «. Arm in Arm spazieren wir an Deck. Dort weht uns ein frischer Wind entgegen, der die Wellen höher an die Planken der Morgenröte schlagen lässt. Hell scheint die Sichel des Mondes am Himmel und mit ihr leuchten die Sterne. Nebeneinander begeben wir uns zum Vorderdeck hinauf. Eine Weile betrachten wir schweigend das glitzernde Wasser. Es ist eine wunderschöne Nacht.
» Erzählst du mir, was dich immer wieder keinen Schlaf finden lässt? «, fragt Kaspian plötzlich – sanft, aber dennoch ernst und nicht mehr so verspielt wie gerade eben. Ich reiße meinen Blick von der Wasseroberfläche los und lenke ihn zu Kaspians Augen
» Woher weißt du davon? «. Wieder legt er seinen Arm um mich und zeichnet mit der anderen Hand mein Gesicht nach.
» Die Schatten unter deinen Augen verraten es «, antwortet er schließlich,
» Außerdem bist du in letzter Zeit sehr schweigsam «. Mit einem leisen Seufzen löse ich mich von ihm und trete an die Reling. Sollte ich ihm erzählen, was ich weiß? Sollte ich ihm von den Erinnerungen erzählen, die mir Aslan wiedergegeben hat? Doch was wird dann werden? Wie wird er reagieren? Rasch werfe ich einen prüfenden Blick auf das Deck. Außer uns beiden ist niemand hier – abgesehen von wenigen Matrosen. Einer steht am Steuerrad, ein anderer hat im Krähennest Posten bezogen.
» Also gut «, sage ich mit gedämpfter Stimme,
» Was ich dir jetzt erzähle, habe ich in jenen neun Tagen nach dem Kampf mit der Seeschlange erlebt «.
» Ich dachte, du hättest deine Erinnerungen verloren!? «, wendet Kaspian ein. Ich nicke
» Das habe ich auch, doch Aslan gab sie mir zurück «. Ich atme tief durch und beginne, ihm alles zu erzählen, was mir widerfahren ist.
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Die Reise des Löwen | Eine narnianische Geschichte
Fanfiction"An deiner Seite bin ich immer bereit." Lunas Reise über Narnias Grenzen hinaus führt sie nicht nur zum äußersten Osten; sie findet eine Bestimmung, die über ihre Aufgabe, den König zu schützen, hinausgeht. März 2022: 3. Platz in FanFiction (The Bor...