TAG FÜR TAG vergeht und ich versuche vergebens, in meinen Körper zurückzukehren. Es scheint fast, als wäre ich verdammt, immerzu als unsichtbares, unhörbares Etwas zu leben. Verdammt dazu, alles zu sehen und zu hören, aber nichts ausrichten zu können. Eine Seele, getrennt von ihrer Hülle. Beinahe wie ein Geist, der Jahrhunderte überdauert und das in ewigem Schweigen. Soll das wirklich mein Schicksal sein? Jedes Mal, wenn ich meinen flach atmenden Körper ansehe, stelle ich mir diese Frage erneut. Wieso lässt Aslan das zu? Der große Löwe gebot uns, nach Narnia zurückzukehren, nach Hause, und jetzt das. Die Pfeilwunde ist im Großen und Ganzen verheilt und dennoch werde ich schwächer. Man flößt mir zu trinken, aber kaum zu essen ein. Manchmal, wenn ich mich weiter von meinem äußeren Selbst entferne als je zuvor, bewegt sich der Körper. Krampfhafte Zuckungen lassen mich dann erschaudern. Zugleich halten diese kleinen Bewegungen meine Muskeln davon ab, zu verkümmern. Wie es mittlerweile zu meiner Gewohnheit geworden ist, wandere ich durch das Schloss. Feeneden ist ein weitläufiger Bau, der vor wenigen Jahren erst wiedererrichtet wurde. Nach dem Verschwinden der vier Könige und Königinnen Peter, Susan, Edmund und Lucy wurde das Schloss nämlich großteils zerstört und der Rest ist über die Jahrzehnte verfallen bis lediglich die Grundmauern übrigblieben. Jetzt strahlt der Herrschersitz wieder in vollem Glanze. Am schönsten ist der Blick auf das Meer, das nur ein kleines Stück von den Toren des Schlosses entfernt ist. Man kann durch den großangelegten Garten streifen und sich im nächsten Moment im Sand wiederfinden. An den Seiten ist Feeneden von Wäldern und Wiesen umgeben, geht man jedoch durch die Haupttore hinaus, findet man sich auf einer breiten Straße wieder, die nach nur kurzem Fußmarsch in eine wachsende Stadt führt. Dort leben viele Bedienstete des Schlosses, hohe Herren und Damen und sogar namenshöchste Adelige. Ab und zu nächtigen Besucher von weither – auch Lords und Ladies aus dem mittlerweile wieder zu Narnia gehörenden Archenland – in den schönen Gaststätten der Stadt. Vor allem, wenn der König zu prächtigen Festen lädt.
Ein Fest hat es hier jedoch schon seit Langem nicht mehr gegeben, darüber hörte ich einige Mägde tratschen. Kaspian hat seinen Posten an meiner Seite kaum verlassen. Er sitzt dort, nach vorne gebeugt, und starrt völlig in Gedanken versunken vor sich hin. Nach wie vor erledigt Trumpkin alle Aufgaben eines Regenten. Einerseits kann ich Kaspian verstehen. Ich an seiner Stelle würde ebenfalls keinen Augenblick von seiner Seite weichen, wenn es ihm schlecht ginge. Andererseits kenne ich ihn seit jeher als verantwortungsvollen, gütigen und einsichtigen König, der sein Volk über alles andere stellt – sogar über sein eigenes Wohl und Glück. Ich wusste nicht, dass ich ihm so viel bedeute. Liebe ist eine Sache, aber die Verbindung zwischen uns ist viel tiefer, weitreichender und inniger als es eine bloße Verliebtheit je sein könnte. Ja, obwohl ich Kaspian jeden Tag sehe, habe ich unendliche Sehnsucht nach ihm. Sehnsucht nach seinen Worten, seinen liebevollen Blicken, seinen Umarmungen, seinen Küssen. Immer, wenn er leise vor sich hinmurmelt, ich solle bei ihm bleiben, würde ich ihm so gerne zeigen, dass ich hier bin, dass ich ihn niemals verlassen werde. Ich möchte wissen, ob es tatsächlich jemanden gibt, der mich sehen kann. Ehrlich gesagt, bezweifle ich dies. Und nach so jemandem suchen, kann ich nicht. Mittlerweile schaffe ich es gerade einmal, mich über die Länge des Korridors bis zum Balkon von meinem Körper zu entfernen. Bei jedem Schritt, den ich zu weit gehe, fürchte ich, ich könnte ihn nicht zurückgehen. Sozusagen, dass meine Chance, in meinen Körper zurückzukehren, richtig aufzuwachen und weiterzuleben, mit jedem Schritt zu viel sinkt. Doch wie könnte ich nur in diesem Zimmer sitzen und warten? Gar nicht, denn ich muss wissen, was draußen vorgeht und vor allem, wie es den Kriegern geht. Als oberste Heerführerin war es meine Pflicht, die Männer auszubilden, in ihre Aufgaben einzuweisen, einzuteilen und für sie da zu sein. Viele von ihnen kamen vor drei Jahren als Jünglinge zu mir und sind mittlerweile starke Männer unter meinem Kommando, einer von ihnen wurde auch zu meiner Vertretung während der Reise auf der Morgenröte. Aber warum spreche ich von alledem in der Vergangenheit? Vielleicht, weil ich fürchte, dass niemals wieder alles beim Alten sein wird. Vielleicht, weil meine Hoffnung schwindet wie die der Heiler, Trumpkins und die der Bediensteten um mich herum. Sobald ich mein Zimmer verlasse, höre ich das Geflüster der Diener, Dienerinnen, Zofen, Kämmerer, Höflinge, Hofdamen, Mägde, Stallburschen, Köche, Köchinnen, Boten – sogar der Ratsmitglieder, anderer Lords, Sirs, Ritter und ihrer Frauen. Nur die Krieger, seien es Soldaten, Knappen, Spione oder Assassinen, lassen die Gerüchte von sich abprallen wie von einer Mauer. Ich habe sogar miterlebt, wie Jared – das ist vertretungsweise der Befehlshaber der Soldaten – einige Bedienstete zusammenstauchte, weil sie darüber philosophierten, wer wohl Königin werden würde. Ich frage mich zwar, woher Jared von Kaspians und meiner Verlobung weiß, womöglich hat Trumpkin ihn ins Vertrauen gezogen.
Ich trete gerade durch die Tür hinaus auf den Korridor. Trumpkin sitzt auf einer Bank gegenüber der Tür und zwirbelt ein Blatt der Pflanze in einem der Töpfe neben ihm zwischen den Fingern. Ich setze mich neben den Zwerg.
» Ach, mein lieber, kleiner Freund «, murmle ich und lehne mich zurück,
» Du musst Kaspian dazu bringen, auf seine eigene Gesundheit zu achten und sein Amt aufzunehmen. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie du das anstellen sollst, aber bitte, tu es! «. Mir ist bewusst, dass er mich nicht hören kann, aber ich habe einfach das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen – wenn das im Moment auch recht einseitig bleibt. Trumpkin hat das Blatt mittlerweile zu einer kleinen Kugel geformt und schnipst diese zurück in den Topf. Er streckt die Beine aus und holt ein Schriftstück unter seiner Tunika hervor. Es ist ein Brief, ich erkenne das Siegel eines Lehensherrn. Langsam entrollt er das beschriebene Papier. Neugierig werfe ich einen Blick hinein. Der Lehensherr schreibt, es gebe in letzter Zeit mehrere Einbrüche und es hätten sogar einige Morde stattgefunden, ansonsten würde er den König nicht mit dieser Angelegenheit belasten. Ihm seien Gerüchte über eine Bande zu Ohren gekommen und er bittet um die Hilfe Kaspians. Als ich diese Worte lese, will ich sogleich aufspringen und mich auf den Weg machen. Wie in alten Zeiten, als ich an Kaspians Seite solche Dinge geklärt habe – auch mehrere Kriege haben wir gemeinsam gefochten.
» Das ist vielleicht etwas viel für den Anfang «, brummt Trumpkin in diesem Moment, rollt den Brief wieder zusammen und steht entschlossen auf,
» Aber ich muss es versuchen! «.
» Ja «, bestätige ich und folge dem Zwerg zur Tür,
» Wenn ich könnte, würde ich das auch tun «. Trumpkin zögert diesmal nicht, sondern tritt gleich ins Zimmer. Kaspian sitzt unverändert an seinem Platz.
» Kaspian, ich muss mit dir sprechen «, kündigt der Besucher an,
» Es ist eine wichtige Angelegenheit, die deine Aufmerksamkeit verlangt. Jetzt. «. Der König reagiert nicht. Trumpkin holt tief Luft.
» Ich glaube nicht, dass Luna dein tatenloses Ausharren befürworten würde «, sagt er dann,
» Sie hat dich überallhin begleitet, aber im...im Moment musst du allein gehen «. Kaspian richtet sich auf und sieht sorgenvoll auf meinen Körper hinunter. Ich trete hinter ihn und lege meine Hände auf seine Schultern.
» Er hat Recht «, flüstere ich,
» Du musst zu dir selbst zurückfinden. Geh ruhig, mit mir ist alles in Ordnung «. Da dreht sich Kaspian um, als hätte er mich gehört, und wir stehen dicht beieinander, doch er sieht mich nicht.
» Ich kann sie nicht verlassen, nicht so «, meint er mit rauer Stimme und fährt sich mit der Hand über das Gesicht.
» Doch, doch, das kannst du! «, rufe ich ihm zu und bleibe – wie erwartet – ungehört.
» Nein «, sagt Trumpkin,
» So kann es nicht weitergehen. Du musst auf dich selbst und dein Volk achten. Was soll sie denken, wenn sie aufwacht und dich so vorfindet? Sie wird zu Tode erschrecken «. Der Zwerg schlägt sich ob der letzten Worte die Hand vor den Mund. Kaspian hat die Stirn krausgezogen und die Hände zu Fäusten geballt. Ich lege meine Hände um sie und gebe ihm einen Kuss auf die Wange.
» Gib nach, es ist zu deinem Besten und zum Besten Narnias «, flehe ich. Kaspian entspannt sich und fasst sich abwesend an die Wange. Hat er es gespürt? Dann endlich verkündet er
» Du hast Recht, mein Freund, vergib mir «. Trumpkin lächelt erleichtert
» Noch gibt es nichts zu vergeben, kein Schaden ist entstanden, denn dein Verhalten ist verständlich. Nun aber ist es Zeit, dass der König zurückkehrt «.
» Ich bin zurück «, sagt Kaspian und sieht über die Schulter zu meinem Körper,
» Für sie «.
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Die Reise des Löwen | Eine narnianische Geschichte
Fanfiction"An deiner Seite bin ich immer bereit." Lunas Reise über Narnias Grenzen hinaus führt sie nicht nur zum äußersten Osten; sie findet eine Bestimmung, die über ihre Aufgabe, den König zu schützen, hinausgeht. März 2022: 3. Platz in FanFiction (The Bor...