Nachdem Naya tief und fest schlafend an meiner Schulter lehnt, hebe ich sie vorsichtig hoch und trage sie nach unten. Ihre Mutter Daphne ist mit ihrem kleinen Bruder Romé und einigen anderen Passagieren in der Königskajüte untergebracht. Leise bette ich das Mädchen auf das Lager neben ihrer Mutter und decke es zu. Möglichst ohne ein Geräusch zu machen, verlasse ich die Kajüte wieder und schließe die Tür hinter mir. Da ich noch keinerlei Müdigkeit verspüre, zieht es mich zurück an Deck. Kühle, salzige Nachtluft schlägt mir entgegen. Die Luft ist nur von dem steten Rauschen des Meeres erfüllt und nichts Anderes stört die Stille. Weit über mir funkeln die ersten Sterne am dunklen Himmel, auch der blaue Stern ist unter ihnen. Die silberne Sichel des Mondes spendet nur so wenig Licht, dass ich die Konturen der Insel, in deren Bucht wir ankern, gerade noch erkennen kann. Ich überquere das Deck und lehne mich an die Reling. Außer mir halten sich nur noch wenige Matrosen hier oben auf. Jeder, der nicht zum Dienst eingeteilt wurde, hat sich schlafen gelegt. Nicht einmal Drinian ist noch zu sehen. Bisher war er stets nur am Steuerrad zu finden, doch nun, wo wir uns nicht auf hoher See befinden, kann auch er sich etwas Ruhe gönnen. Ich lasse meinen Blick über das Wasser gleiten, in dem sich die funkelnden Himmelskörper spiegeln. Nur leichte Wellen bewegen die Oberfläche und lassen das Schiff kaum schaukeln. Ohne es wirklich zu wollen, schweifen meine Gedanken zurück zum Kampf gegen die riesige Seeschlange. Das ist das letzte, woran ich mich erinnern kann. Danach weiß ich nur mehr, dass ich ganz woanders aufgewacht bin. Es scheint, als hätte jemand einen Teil meiner Erinnerungen verschleiert, sodass ich sie nicht sehen kann. Das habe ich schon einmal erlebt. Vor einigen Wochen, auf der Todeswasserinsel. Ich schüttle unmerklich den Kopf, nein, über so etwas möchte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Es wird Zeit, dass mir jemand erzählt, was seit der Dunklen Insel nun wirklich vorgefallen ist. Gerade richte ich mich auf und wende mich zum Gehen, da schlingen sich zwei muskulöse Arme um meine Taille und halten mich fest.
» Guten Abend, edle Dame «, flüstert Kaspian an meinem Ohr. Ich lächle und lehne meinen Kopf an seine Schulter. Ein leises Lachen ertönt, dann ist es einige Augenblicke still.
» Was machst du so spät noch hier draußen? «, fragt er schließlich.
» Ich warte auf dich und darauf, dass du mir erzählst, was geschehen ist «, antworte ich wahrheitsgemäß. Daraufhin ist es wieder still. Lange höre ich nur sein Atmen. Viel zu lange. Ich drehe mich in seinen Armen um und sehe ihn mit schiefgelegtem Kopf an. Seine Augen sind dunkel und blicken gedankenverloren in die Ferne. Sachte streiche ich über seine Schultern. Noch immer hat er nichts erwidert.
» Kaspian, bitte sprich mit mir «, sage ich sanft und der Druck seiner Arme um meine Taille wird stärker. Nun wendet er seinen Blick mir zu und sieht mich eine Weile einfach nur an. Während sein Gesicht unbewegt bleibt, spiegeln sich in seinen Augen Welten der Gefühle wider.
» Nachdem du mit dem leblosen Ungeheuer ins Wasser gestürzt bist, warteten wir lange. Ich hoffte, dass du jeden Augenblick auftauchen würdest und ich dich in die Arme schließen könnte... Doch selbst nach Minuten warst du nirgends zu sehen und Drinian musste die Morgenröte aus dem brechenden Nebel hinaussteuern... «, Kaspian wendet sich ab und stütz die Arme auf die Reling. Ich bleibe wie angewurzelt einfach an Ort und Stelle stehen. Es scheint mir nicht möglich, mich zu bewegen.
» Ich wollte es nicht glauben «, flüstert er,
» Ich wollte nicht glauben, dass du...nie wieder zu mir zurückkehren würdest. Nicht nach dem ersten Tag, nicht nach dem zweiten...die ganze Fahrt zurück hierher nicht «. Er atmet tief ein und aus und strafft die Schultern ehe er weiterspricht.
» Wir brachten das siebte Schwert zu Aslans Tafel und die letzten Reste der Dunklen Insel verschwanden in einem tosenden Sturm. Nachdem sich dieser gelegt hatte, tauchten die Boote mit den Narnianen auf. Du warst nicht unter ihnen und ich hatte das Gefühl als wäre mein Herz mit dir auf den Grund des Meeres gesunken... «, wieder bricht er ab und holt tief Luft,
» Neun Mal ging die Sonne auf und wieder unter und es hatten beinahe alle die Hoffnung aufgegeben. Am Morgen des zehnten Tages fand ich dich schließlich am Strand, den Rest kennst du bereits «. Am Ende hört sich seine Stimme beinahe wütend an. Er legt den Kopf in den Nacken und blickt zu den Sternen hinauf. Noch immer habe ich mich nicht bewegt. Neun Tage war ich verschwunden? Ich kann es nicht fassen, wie ist das möglich? Ich schließe einen Moment die Augen, um das Ganze noch einmal in Gedanken durchzugehen. Nachdem ich tief durchgeatmet habe, trete ich einen Schritt vor, um neben Kaspian zu stehen. Meine Hand findet die seine und unsere Finger verschränken sich ineinander.
» Es tut mir leid «, hauche ich und streiche über seinen Rücken. Endlich wendet er sich wieder mir zu. Seine Augen glänzen verdächtig und bei diesem Anblick zieht sich mein Herz zusammen. Da er nichts erwidert, gleitet meine freie Hand über seine Schulter bis hin zu seiner Wange. Dort zieht sich eine nasse Spur über seine Haut.
» Du kannst doch nichts dafür «, murmelt er und blickt wieder auf das Meer hinaus.
» Vielleicht nicht, aber hätte ich nicht...wenn ich einen anderen Weg gefunden hätte, um die Schlange abzulenken... «, überlege ich verzweifelt. Seine Augen schnellen zu mir
» Nein, mach dir keine Vorwürfe. Du hast getan, was du tun musstest, und hast uns damit alle gerettet «, meint Kaspian, doch er klingt noch immer etwas aufgebracht. Eigentlich war das Edmund, doch ich sage nichts, dafür ist jetzt der falsche Zeitpunkt.
» Es...es waren neun Tage, Luna! «, er blickt wieder auf das Wasser,
» Neun Tage voller Ungewissheit, in denen ich nur hoffen konnte... «. Weitere Tränen rinnen über seine Wangen und verärgert wendet er den Kopf noch weiter ab, sichtlich mit sich um Fassung ringend. Ich kann ihn nur zu gut verstehen. Oder? Nein, wenn ich ehrlich bin, kann ich nicht verstehen wie er sich gefühlt haben muss. Ich kann es mir vorstellen, aber wirklich verstehen kann ich es nicht.
» Tränen sind nichts, was man verbergen müsste «, erwidere ich also sanft und lege eine Hand an seine Wange, damit er sein Gesicht wieder zu mir dreht,
» Ich liebe dich «. Der letzte Satz ist kaum mehr als ein Flüstern. Diesmal schlage ich die Augen nicht nieder, sondern sehe ihn geradewegs an. Diesmal gelingt es mir, die andere Luna komplett aus meinen Gedanken zu verbannen. Diesmal lässt mein Herz meinen Verstand schweigen und hüpft aufgeregt in meiner Brust. Mit einem Mal werden seine Züge weich und er legt seine Arme um mich. Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter, während er das seine in meinen Haaren verbirgt. Eine Weile stehen wir so da, genießen einfach nur die Nähe des anderen.
» Ich liebe dich auch «, sagt er schließlich leise. Ich hebe den Kopf und entdecke das liebevolle Lächeln, das um seine Lippen spielt und das ich sogleich erwidere. Dann beugt er sich ein wenig zu mir herab und verschließt unsere Lippen.
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Die Reise des Löwen | Eine narnianische Geschichte
Fanfiction"An deiner Seite bin ich immer bereit." Lunas Reise über Narnias Grenzen hinaus führt sie nicht nur zum äußersten Osten; sie findet eine Bestimmung, die über ihre Aufgabe, den König zu schützen, hinausgeht. März 2022: 3. Platz in FanFiction (The Bor...