Verzeih, wenn ich schwierig bin. Nimm dir Zeit und wir kriegens hin.

398 39 3
                                    

PoV Tim

Ich lief vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer, vom Schlafzimmer in die Küche. Nirgendwo war es mir möglich auch nur einen einzigen klären Gedanken zu fassen. Ich war unfassbar wütend auf mich selbst. Hätte ich sie abgeholt, wäre das nicht passiert. Ich hätte merken müssen, wie schlecht es ihr ging. Es war fast so, als wollte ich mir selbst noch mehr weh tun, indem ich mich wieder dem Tagebuch widmete. Ich war wie gefesselt davon. Ich las flüchtig die nächsten Zeilen, blätterte einige Seiten vor. Ich ertrug es kaum, zu lesen, wie sie sich gefühlt hatte, welche Gedanken ihr durch den Kopf gingen und wie viel Angst sie hatte, es mir zu erzählen. Sie dachte, ich würde sie verlassen. Ich hätte sie niemals für etwas verlassen, was ihr jemand anders angetan hätte.

Noch immer war ich unentschlossen, ob ich Stegi anrufen sollte, doch was sollte ich ihm sagen? Wenn ich ihm davon erzählen würde, würde er sofort nach Hause kommen, da war ich mir sicher. Ich wollte nicht, dass er das Wochenende bei Chrissy abbricht, um mir zuzusehen, wie ich in Selbstmitleid, Selbstvorwürfen, Trauer und Wut versank. Langsam schlossen sich für mich einige Lücken. Wir hatten uns damals einige Tage nicht gesehen, weil sie angeblich krank war, doch offenbar benötigte sie erst einmal ein paar Tage Zeit, um mit sich und der Sache soweit klar zu kommen, dass sie mir in die Augen sehen konnte. Seufzend griff ich nach meinem Handy und wenig später erklang das monotone Tuten. Es schien unfassbar viel Zeit zu vergehen, bis Stegis Stimme das Geräusch endlich unterbrach. „Hey Tim!" Ertönte es aus dem Hörer, er klang außer Atem. „Hey Schatz, was macht ihr? Geht's dir gut?" gab ich zurück, bemühte mich, meine Fassung zu wahren. „Chrissy hat mich grad gezwungen Sport zu machen, aber sonst geht's mir gut und dir?" – „ja, alles gut soweit." Ich schluckte schwer. Ich hasste es, Stegi anzulügen. Ich wollte ihm nicht sagen, was los war, er würde sich Sorgen machen und sofort in den nächstmöglichen Zug steigen. „Bist du sicher?" – „ja, alles gut, mach dir keine Gedanken. Ich wollt nur kurz deine Stimme hören, ich will euch gar nicht weiter stören." – „du störst mich nicht und das weißt du auch. Ich vermisse dich übrigens ziemlich." – „du fehlst mir auch, du glaubst gar nicht, wie sehr." Ärgerlich blinzelte ich die Tränen weg, die sich unbemerkt gebildet hatten. „Du, Stegi, es tut mir echt leid, wie das alles gelaufen ist in letzter Zeit, ich.." – „ist in Ordnung, wirklich. Du musst dich nicht entschuldigen, es ist alles okay und ich bin dir auch nicht böse oder so. Nimm dir die Zeit, die du brauchst." – „Danke. Ich freu mich auf dich, macht euch noch ne schöne Zeit." – „ich freu mich auch auf dich."

Nach dem Telefonat mit Stegi ging es mir zumindest ein kleines bisschen besser. Ich wollte nicht weiterlesen, auch wenn ich ein gewisses Verlangen danach hatte. Ich griff nach dem Buch und legte es in die Schublade, in der ich auch den Verlobungsring aufbewahrte. Ich würde warten, bis Stegi wieder da war, dann würde ich ihm alles erzählen, was ich bislang wusste. Ich hatte Angst, ihm von der Verlobung zu erzählen, weil ich keine Vorstellung davon hatte, wie er reagieren würde.

Die Zeit bis Stegi zurückkam, verging wie in Zeitlupe. Ich stand wie auf Kohlen am Bahnhof, der Zug würde erst in einigen Minuten ankommen, trotzdem warf ich alle paar Sekunden einen ungeduldigen Blick auf die Uhr. Als der Zug endlich in den Bahnhof Einfuhr, atmete ich erleichtert auf und blickte mich, sobald die Türen sich geöffnet hatten, hektisch nach einem blonden Haarschopf um. Mit jeder Sekunde, in der ich ihn nicht fand, würde ich nervöser. Ich kam mir beinahe albern vor, weil ich so übertrieben reagierte. „Da!" seufzte ich erleichtert und lief eilig auf Stegi zu, der mit seinen Augen den Bahnsteig abzusuchen schien. „Endlich." Murmelte ich, sobald ich ihn in eine feste Umarmung gezogen hatte. „Endlich? Solange war ich doch gar nicht weg." Grinste Stegi, als er sich aus der Umarmung befreit hatte. Ich griff nach seiner Hand und zog ihn mit mir aus dem viel zu großen Bahnhofsgebäude. „Ich muss dir was erzählen, wenn wir zuhause sind." Warnte ich meinen Freund vorsorglich und ich spürte, wie angespannt er plötzlich war.

Zuhause angekommen stellte ich Stegis Tasche im Schlafzimmer ab und schob ihn vorsichtig vor mir her ins Wohnzimmer. „Setz dich hin, ich komm gleich." Bat ich ihn und lief zu der kleinen Kommode im Flur, aus der ich die Schachtel mit dem Ring holte. Ich sah bereits die Panik in Stegis Augen, als ich mit der Schachtel in der Hand das Wohnzimmer betrat. „Keine Angst, ich mach dir keinen Antrag." Lächelte ich gespielt und setzte mich neben ihn. Ich hielt ihm die Dose hin und forderte ihn mit den Augen auf, sie zu öffnen. Stegi rührte sich keinen Milimeter und warf mir einen unsicheren Blick zu. „Mach schon." Forderte ich nun auch verbal. Kurz darauf hielt Stegi den silbernen Ring in der Hand und schien mich vollkommen auszublenden. Er drehte den Ring, las die Gravur darin und schien zu verstehen, was für einen Ring er gerade in der Hand hielt. „Ist das.. Warst du mit Cata verlobt?" Ich nickte kaum merklich. „Tut mir leid, dass ich es dir jetzt erst sage." Schob ich hinterher, doch Stegi schien es nicht mal zu stören, dass ich es ihm so lange verschwiegen hatte. „Ich will jetzt ehrlich zu dir sein, nicht, dass ich dich vorher angelogen hätte, aber ich würde dir gern erzählen, was in dem Buch steht, wenn du das möchtest." Wisperte ich und mein Freund begann sogleich zu nicken. „Klar, möchte ich das, was für eine Frage."

Wir hatten einige Zeit recht schweigsam nebeneinander gesessen. Ich musste mich erst sammeln, bevor ich dazu bereit war, zu sprechen. „Ich fühl mich wahnsinnig mies, wenn ich dir das alles erzähl." Gab ich zu. „Ich mein, das ist das Tagebuch von meiner Freundin und ich erzähl dir einfach, was drin steht, ich fühl mich ja schon schlecht, wenn ich es les." – „du musst das nicht, wenn du nicht willst, das weißt du, oder?" – „ich will das aber, ich kann dir das nicht länger verschweigen, außerdem muss ich mit irgendjemandem reden und es gibt niemandem, dem ich so vertraue, wie dir." Ich atmete lautstark aus. „Ich weiß nicht mal wie oder wo ich anfangen soll." – „wann habt ihr euch denn verlobt?" – „an unserem Jahrestag, da waren wir drei Jahre zusammen. Wir haben aber nie jemandem davon erzählt, wer hätte das schon ernst genommen? Du bist der erste, der davon weiß. Ich hab mein Training ausfallen lassen, damit wir mehr Zeit miteinander verbringen können und hab sie dann abends gefragt. Sie hat sich so gefreut, sie war echt glücklich. Sie hat geschrieben, das wäre ihr größter Traum gewesen. Ihr größter Traum war es, mich zu heiraten. Ich mein, kannst du dir das vorstellen?" Stegi nickte lediglich. „das war 294 Tage, bevor sie gestorben ist. Danach ist nicht wirklich viel passiert, wir sind halt zur Schule gegangen, der übliche Kram eben." Ich spürte schon jetzt, wenn ich nur daran dachte, was ich als nächstes erzählen würde, wie sich mein Magen zusammenzog. Tränen bildeten sich in meinen Augen, die ich versuchte wegzublinzeln, was mir jedoch nicht gelang. „An einem Freitag war die Geburtstagsfeier von Annika, ich konnte Annika noch nie leiden, deshalb wollte ich nicht dahin, aber Cata wollte unbedingt. Ich hab gesagt, dass ich sie abhol, wenns nicht zu spät wird, weil ich am Samstag ein Spiel hatte und dementsprechend früh aufstehen musste." Stegi griff nach meiner Hand, er konnte mir ansehen, wie schwer es mir viel, mit ihm darüber zu sprechen. „Ich hab sie nicht abgeholt, eigentlich wollte ihr bester Freund sie nach Hause bringen, aber sie war mindestens genauso stur wie ich und hatte keine Lust darauf und ist dann einfach abgeholfen. Man, Stegi, wenn ich die abgeholt hätte, wäre das nicht passiert, wenn ich.. Hätte ich einfach mal an sie gedacht und nicht an mich oder das bescheuerte Basketballspiel, wär das alles nicht passiert!" Ich war schon wieder unfassbar wütend auf mich selbst. „Wenn ich die abgeholt hätte, wäre sie an dem Abend nicht vergewaltigt worden und.." Meine Stimme wurde durch die Tränen erstickt, die mir mittlerweile ungehindert die Wangen hinunter liefen. Stegis Blick wurde immer fassungsloser, es schien ihm genauso schwer zu fallen, damit umzugehen. „Das ist nicht deine Schuld, Tim, du kannst nichts dafür." Flüsterte, als er seien Fassung zurück erlangt hatte. „Natürlich ist es meine Schuld, wenn ich sie abgeholt hätte, wäre das nicht passiert!" zischte ich, was meinen Freund zusammen gucken ließ. „Du kannst nichts dafür! Niemand, außer demjenigen, der es getan hat, kann was dafür! Du nicht und Cata genauso wenig!" Ich löste meine Hand aus der von Stegi, um mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Ich war schuld, niemand sonst.

Was machst du nur mit mir PART 2 | Stexpert FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt