Die Legende des Fenrir rief bei Luna nur allmählich Erinnerungen wach. Innerhalb ihrer Ausbildung wurden immer wieder geradezu unglaubliche Dämonen behandelt, doch sie mochte die Geschichten nie sonderlich. Sie erschienen ihr zu brutal, zu weit hergeholt, als dass sie tatsächlich hätten wahr sein können. Doch nun musste sie zugeben, dass sie falsch lag, denn einer der zwei Söhne des Fenriswolfes stand direkt vor ihr und zudem hatte sie ihn gebändigt.
Halb Mensch, halb Dämon wiederholte sie in Gedanken. Wie konnte sich eine menschliche Frau in einen solch schrecklichen Dämon verlieben? Oder gab es zwischen ihnen gar keine Gefühle? Ein kalter Schauer überkam Luna und sie schüttelte sie kaum merklich. Sie wollte nicht an die zahlreichen Möglichkeiten denken, wie es dazu gekommen sein konnte, sondern das hier und jetzt betrachten. Immerhin schwebte sie in Gefahr.
„Wieso bist du bei Rus?", erkundigte sich Noah nach einer Weile.
„Er hat mich vor Dante beschützt und aus dem Kerker, oder was das auch immer darstellen sollte, geholt."
Noah blickte nach draußen. Vor ihnen tat sich eine recht ebenmäßige Fläche aus, die komplett aus grauem Gestein bestand. Diese Einöde wirkte deprimierend auf Luna, obgleich sie endlich Noah gefunden hatte und es ihm augenscheinlich gut ging. Sie sollte sich freuen, aber der Schatten seines Bruders schwebte über ihnen, wie eine Unheil verkündende Gewitterwolke.
Trotz dieser offensichtlichen Gefahr, konnten sie nicht ewig in der Höhle hocken, sondern mussten zumindest versuchen, Luna von hier wegzuschaffen. Das schien zumindest Noahs Gesichtsausdruck zu verkünden. Er wollte sich seine Sorge nicht anmerken lassen, doch die Falten auf seiner Stirn zeugten vom Scheitern dieses Versuches. Sachte schob er Luna weiter vor sich her und an Rus vorbei.
„Die Frage ist wahrscheinlich sinnlos, aber weißt du, wer die Dämonenjäger verraten haben könne?", stellte Luna die Frage, die ihr seit langem auf der Zunge brannte. „Dante meinte, jemand habe sie ... uns untergangen."
Noah schwieg, was Luna als ein schlechtes Zeichen deutete. Sollte es also die Wahrheit sein? Und woher hatte Noah diese Informationen? Das alles war so verwirrend.
„Ein Mensch kam zu uns", mischte sich plötzlich Rus ein. „Ich wollte dich nicht verunsichern, deshalb hielt ich es für besser, dir vorerst nichts zu sagen."
„Wer?", keuchte Luna erschrocken und löste sich von Noah, der versuchte, sie festzuhalten. „Wer ist zu euch gekommen?"
„Ein Mann. Vermutlich gehört auch er zu den Jägern, jedenfalls besaß er diese Aura um sich", Rus stoppte, da Lunas eindringlichen Blicke ihn nervös machten.
„Warum sollte mein Bruder einen Menschen und dann auch noch einen Dämonenjäger zu sich lassen?", hinterfragte Noah skeptisch. „Er hasst alles Menschliche."
„Das stimmt, doch dieser junge Mann erzählte uns, dass er Carcerem untergehen sehen wolle. Er sprach von Zerstörung und Tod, beinahe wie im Wahn, aber seine Augen blieben klar. Der Irrsinn hatte ihn noch nicht berührt und dennoch fiel es uns schwer, ihm zu folgen."
„Dieser jemand will den Untergang Carcerems?", wiederholte Luna atemlos. „Wie sah er aus?"
Die Männer sahen einander an. Ein schneidender Wind fegte von den Berghängen herab und über die Fläche. Luna erinnerte sich an den Tag, als sie sich zum ersten Mal Julianus vorstellen musste. Ihr Vater war damals noch nicht lange das Oberhaupt der Stadt, doch er und Julianus kannten sich schon seit Kindertagen und standen sich recht nahe, schätzten den Rat des jeweils anderen. Jedenfalls sollte sie sich offiziell einigen der besten Jäger Carcerems vorstellen und ihr Bauch rumorte bereits am Vorabend wie wild. Gerade jemandem gegenüber zu stehen, den so viele Bewohner lobten, nährte ihre Aufregung. Ihr Vater versicherte ihr zwar, dass von diesem Mann niemals eine Gefahr für sie ausgehen würde, aber seine hohe Stellung schüchterte sie dennoch ein. Außerdem konnte sie sich nicht sicher sein, ob sie denn den Ansprüchen der anderen genügte und dies würde über ihre Zukunft mitbestimmen.
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Daemonium
Paranormal„Dunkelheit, Blut an meinen Händen. Das waren die ersten Dinge, die ich wahrnahm. Ein stechender Schmerz breitete sich in meinem Nacken aus. Meine Augen wollten sich nicht an die Finsternis gewöhnen. Blind tastete ich mich voran, nichts ahnend, was...