~Kapitel 22~

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In ihrem momentanen Tempo würde Luna es nie schaffen, vor Julianus bei Alec anzukommen. In einer der kleinen Siedlungen, die etwas außerhalb der großen Stadt gelegen war, fand sie ein altes Motorrad vor einer Scheune. Eine Öllache hatte sich darunter gebildet, scheinbar arbeitete jemand gerade daran. Auch der Schlüssel steckte noch, da sein Besitzer wahrscheinlich mit dem Ertönen der Warnsirenen schnellstens einen der Schutzbunker aufgesucht hatte.

Nach einigen Versuchen sprang der Motor endlich an. Ihr war unwohl dabei, ohne Helm zu fahren, allerdings überlebte sie in letzter Zeit so Einiges, dass es ihr unmöglich vorkam, nun bei einem Motorradunfall zu sterben. Also fuhr sie los. Zuerst langsam und vorsichtig. Bisher saß sie erst drei oder vier Mal auf einem Motorrad, welches ihrem Vater gehörte und wesentlich moderner aussah.

Bald hatte sie den Dreh raus und war relativ sicher im Umgang mit dem Zweirad. Immer schneller donnerte sie die Straßen entlang. Innerhalb der Stadt entgegnete ihr eine Totenstille. Niemand war zu erahnen, wie ausgestorben kam es ihr vor. Die Autos standen in den sonst vielbefahrenen Straßen verlassen mitten im Weg. Sie musste diese geschickt umfahren und ihre Geschwindigkeit drosseln, sonst wäre sie an den offenen Autotüren hängen geblieben.

Auf dem Asphalt konnte Luna noch recht gut lenken, aber sobald sie den kleinen Waldweg, der zu Alecs Hütte führte, erreicht hatte, musste sie enorm aufpassen. Das Motorrad rutschte auf dem nicht befestigten Boden vom Weg und in die Sträucher am Rand. Mühsam richtete sie das Gefährt wieder und wieder auf, bis die alte Hütte in der Ferne auftauchte. Sie schmiss das Motorrad in einen der Büsche und rannte los. Die Bäume flogen an ihr vorbei, nahezu schneller als während der Fahrt und alles um sie herum verschwamm in einem Meer aus grünen Farben. Sie roch das Moos und die Nässe des Waldes legte sich auf ihre erhitzte Haut, oder war das ihr Schweiß?

Sie klopfte an die spröde Holztür, eines der Dinge, das ihr jedes Mal neu erschien. Auch nach längerem Warten öffnete keiner. Nicht mal seine heisere Stimme erklang. Schleichend ging sie um das Haus herum und musste feststellen, dass kein Licht brannte und von Alec ebenfalls jegliche Zeichen fehlten. Sie drückte die Tür nach innen, wobei diese auf dem Boden schliff und weitere Kratzer hinterließ. Bei jedem Schritt knarzte der alte Boden. Die Dielen waren lose und bogen sich durch die Feuchtigkeit im Raum nach oben. Auch der Schimmel in den oberen Ecken der Wände kam Luna nun viel großflächiger vor.

Sie durchsuchte alle Zimmer, rief immer wieder nach Alec, doch bekam keine Antwort. Im Haus roch es sogar noch nach Zigarren und deren Rauch. Im Aschenbecher lag eine ausgedrückte Zigarre und als Luna diese berührte, spürte sie, dass diese noch etwas ihrer ehemaligen Wärme besaß. Also konnte Alec noch nicht allzu lange fort sein.

Während sie draußen nach Spuren suchte, fand sie eine bemooste Stelle, welche plattgetreten worden war. Einen Schuhabdruck war zu erkennen und in regelmäßigen Abständen entdeckte sie kleine Löcher im Boden, die von Alecs Gehstock stammen mussten. Sie folgte der Spur tiefer in den Wald hinein und somit entfernte sie sich von der Stadt. Nicht einmal sie war hier zuvor gewesen. Die Tannen versperrten ihr mit den dichten Nadelgestrüppen die Sicht nach vorn und das Durchkommen war beinahe unmöglich. Die dünnen Stacheln bohrten sich hin und wieder in ihre Haut, das Harz verklebte ihre Haare und Hände. Schließlich gelangte sie auf eine Lichtung. Sie benötigte nicht lange und erblickte Alec, der sich auf einen Stein gesetzt hatte und starr in den Himmel schaute.

„Alec!", keuchte Luna und spürte das Kratzen in ihren Hals. „Was machst du hier nur?"

Der alte Mann ignorierte ihre Rufe, ihre Anwesenheit. Auch als sie näher an ihn herantrat, bewegte er keinen Muskel. Er wirkte noch verwahrloster und älter als noch vor ihrem Verschwinden.

„Noah ... er kommt hierher", erklärte sie hastig. „Der Fenriswolf kommt."

„Ich weiß, ich weiß. Kleine, warum glaubst du, bin ich hier?", er klang sehr sarkastisch und sein früheres Ich blitzte in seinen Augen auf. „Ich hatte dir doch schon gesagt, dass er mich töten will. Aber mein schönes Haus soll er mir mit seiner Mordlust nicht ruinieren."

DaemoniumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt