-10- ➳ Im Unterschlupf

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„Wo sind wir hier?" Ich drehte mich einmal in dem kleinen Raum, den wir durch einen unterirdischen Gang erreicht hatten, im Kreis. Christopher schwenkte seine Taschenlampe umher und es wirkte beinahe fröhlich, wie der Lichtball auf und ab zu hüpfen schien. Der Boden war bedeckt unter einer Staub- und Sandschicht und mehrere Papierschnipsel lagen auf dem Boden. Das Licht der Taschenlampe traf auf eine zerschlissene Couch, sowie einen umgestürzten Tisch.
„Haben hier welche gelebt?", fragte Jenia neben mir ungläubig. Als ich einen Schritt nach hinten machte, stolperte ich beinahe über etwas und erschrocken quitschte ich auf. Christopher lenkte sofort das Licht auf mich.
„Ich denke, das kannst du gebrauchen. Sonst brichst du dir noch etwas wegen deiner Tollpatschigkeit", hörte ich Niall. Er betrat gefolgt von Megs den Raum und warf mir eine Taschenlampe zu, die ich glücklicher Weise fing. Sofort schaltete ich sie an und lenkte sie auf das, was mich beinahe zum Sturz gebracht hatte. Es war ein Spielzeugpferd. Fasziniert hockte ich mich hin und hob es auf. Ein Hinterbein war bereits abgebrochen, die Farbe blätterte ab und die Schweifhaare waren verschwunden, aber dafür war das Gesicht noch komplett erhalten. „Hier waren Kinder", sprach ich aus und hob wieder meinen Blick.
„Jetzt wohl nicht mehr. Diese Zeitung hier ist vom 9. Juni 2151. Das war nur eine Woche vor dem kompletten Kollaps." Harry hielt eine zusammengerollte Zeitung in der Hand und warf sie dann auf den Tisch. Sie schlitterte etwas über die Tischfläche, bis sie bei einem Becher zum Stehen kam.
Ich schluckte.
2151. Das war vor knappen zweihundert Jahre.
„Ob sie einen Platz in den Skyscrapern bekommen haben?" Ich wusste nicht, warum ich meine Frage laut aussprach, aber auf irgendeiner bestimmten Art und Weise beschäftigte mich das Schicksal dieser Familie sehr.
„Sie werden jetzt so oder so tot sein, Sophia, Sophia Smith." Ich spürte Liams Hände auf meinen und erschrocken zuckte ich zurück. Doch er hob erneut seine Hände und nahm mir sanft das Spielzeugpferd aus den Händen. „Vielleicht haben sie einen Platz bekommen und die Urururenkel von dem kleinen Mädchen, das mit diesem Pferd gespielt hatte, leben in den unterschiedlichsten Skyscrapern und führen ein glückliches Leben."
Mein Blick blieb an dem unversehrten Gesicht des Pferdes hängen.
„Und wenn nicht? Ist so eine Illusion denn keine Naivität?"
„Nein, naiv wäre, dunkle Gedanken wegen einer längst vergangenen Vergangenheit zu haben. Illusionen sind manchmal unsere einzigen Retter, Sophia, Sophia Smith."
Ich lachte leise auf und schüttelte meinen Kopf.
Dann drehte ich mich von ihm weg, denn er wiedersprach sich mit seinen eigenen Worten.

Bevor Liam noch etwas zu mir sagen konnte, sprach Niall mit erhobener Stimme: „Nun gut, wegen den momentanen Wetterverhältnissen werden wir hier solange ausharren, wie es möglich ist und es erfordert wird. Durchsucht alles was ihr finden könnt! Unsere Vorfahren sollten nämlich im Wirtschaftsjahr 2130 einen Durchbruch im Bereich Konservieren und in der Lebensmitteltechnologie gehabt haben. Verdammt, hätte ich jetzt Bock auf ein Hotdog, dass zehnmal so alt ist wie ich!"

Wir hatten alle verfügbaren Taschenlampen so aufgehangen, dass jeder Winkel des Raumes beleuchtet wurde. Bis auf diesen Raum hatten wir noch ein kleines Bad gefunden und während Megs sich mit den Worten, dass jeder Haushalt einen Notfallgenerator haben müsste, auf die Suche nach genau diesem machte, ging jeder seinen eigenen Sachen nach. Mason hatte sich auf die Couch geschmissen und mit seinen Füßen den Becher von dem Couchtisch gefegt. Er blätterte gelangweilt durch die Zeitung und stoppte gelegentlich. Zu gern wollte ich ihn bitten, mir danach die Zeitung zu geben, doch dann würde er sie garantiert vernichten, nur damit ich nicht die Chance zum Lesen bekommen würde. Das wusste ich ganz genau.
Niall saß ähnlich wie Mason auf einem der zwei Feldbetten, die eine gesamte Raumseite in Anspruch nahmen. Zusammen mit Sam und Jenia quetschen wir uns an die kleine Küchenzeile. Teilweise war sie baufällig und unter einer Steinstaubschicht, der von der Decke ab und zu rieselte, bedeckt.
Wir öffneten alle Schubladen und Fächer, doch viele waren leer. Erst als ich mich mit Sams Hilfe auf die Ablagefläche hochschwang, um auch an das oberste Regal zu kommen, hatten wir Glück.
„Hier sind Einmachgläser, Wasserkanister und kleine Päckchen!", stieß ich voller Erleichterung aus.
„Zeig, nun zeig schon her! Können wir es essen?"
Ich spürte, wie Jenia an meinem Jeansstoff zog, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen. „Ja, warte doch", antwortete ich, während ich vorsichtig ein Glas in die Hand nahm und es hin und her drehte. Die Schrift auf dem Glas war nicht mehr lesbar, aber es musste eine Marmeladensorte sein. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich es weiter betrachtete. Seit zweihundert Jahren stand es nun schon hier und vielleicht würde es uns das Leben retten...
„Sophia!"
Jenia zog erneut an meinem Jeansstoff und leicht genervt blickte ich zu ihr herunter. Auffordernd hielt sie mir ihre Hand entgegen und ohne noch etwas zu sagen, reichte ich es ihr.
„Gibt's dort zufällig auch noch eine Flasche Wein?"
Mein Blick huschte zu Niall, der immer noch mit Schuhen auf dem Bett lag und seine Hände hinter seinen Kopf verschränkt hatte, um zu uns hinüber schauen zu können. Sofort presste ich meine Lippen zusammen und wendete meinen Blick wieder ab.
Fünf weitere Einmachgläser standen im Regal, wobei zwei davon undicht waren, sodass der Inhalt nicht mehr genießbar sein würde.
Die Beschriftungen auf den Verpackungen zeigten auf Früchtebrot, getrocknete Tomaten und Erbsen hin. Ein paar Tüten waren bereits eingerissen oder wiesen Löcher auf, sodass ich sie sofort beiseiteschob. Das letzte was wir jetzt gebrauchen konnten war eine Lebensmittelvergiftung.
Nach und nach reichte ich die Lebensmittel, von denen ich so sehr hoffte, dass sie noch essbar waren, nach unten. Christopher und Harry standen mir nun auch beiseite.
„Jetzt kommen die Wasserkanister", sagte ich an, während ich nach dem ersten griff. Eine Welle von Glück überflutete mich. Zwar waren es nur zwei Kanister mit je fünf Liter, doch dennoch war es mehr, als die Regierung uns überhaupt mitgegeben hatte. „Jeder bekommt einen Liter Wasser", sprach ich und reichte Harry den ersten Kanister an.
Als ich nach dem zweiten Griff, hörte ich, wie Niall aufstand.
„Na, meine Liebe, übernimmst du jetzt etwa die Lebensmitteleinteilung?"
Ich verharrte für einen Moment, bevor ich meinen Kopf zu Niall drehte. „Nein, es ist nur eine gerechte Verteilung. Wir haben zehn Liter und sind neun Personen. Den letzten Liter können wir zum Waschen benutzen, denn jeder von uns hätte-"
„Sophia, denkst du wirklich, ein Liter wird jeden von uns auf Dauer helfen?", unterbrach Niall mich und verwirrt runzelte ich die Stirn. Was wollte er mir damit sagen?
„Niall, ich denke nicht, dass-"
Doch auch Jenia wurde von ihm unterbrochen und er kam noch etwas näher: „Sophia, ich werde wieder diese Gruppe leiten. Gib mir den zweiten Kanister."
Ungläubig konnte ich ihn nur anstarren.
„Das ist mein ernst. Wenn du ihn mir nicht gibst, wirst du kein Wasser bekommen und musst mit deinen eigenen Vorräten auskommen", sprach Niall langsam und legte dabei leicht seinen Kopf schief. Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen und augenblicklich fühlte ich mich in die Situationen zurückversetzt, in denen er mich bedroht hatte.
Eigentlich hatte es nie einen Moment gegeben, in dem er mich n nicht bedroht hatte.
Ich sah in seinen Augen, dass er es ernst meinte und mir damit zeigen wollte, dass er mich nicht brauchte. Voller Wut knirschte ich mit den Zähnen, bevor ich langsam nach dem zweiten Kanister griff und sie ihm überreichte. Dabei unterbrach ich kein einziges Mal den Blickkontakt.
„Niall-"
„Mein allerliebster Halbbruder, wenn du jetzt der Meinung bist, dass du hier deinen unwichtigen Einspruch wie im Hohen Rat kundtun kannst, werde ich dich mit deiner eigenen Ration Wasser ertränken. Also halt verdammt noch mal deine verfickte Fresse und verkrieche dich nach Papi und Mami heulend in eine Ecke."
Ohne Liam anzuschauen, drehte sich Niall mit den Kanistern um und warf sich wieder auf das Feldbett, nachdem er sie an das Bettende abgestellt hatte. Mason, der ihm gegenüber saß, hob noch nicht einmal seinen Blick von der Zeitung, als er sprach: „Ich bin dafür, dass ich Sophias Wasserration bekommt."
Niall jedoch hob nur den Mittelfinger.
Zumindest hieß das, dass ich meine kostbare Wasserration nicht an Mason verlieren würde...
Dennoch wütete eine ungeahnte Wut durch meinen ganzen Körper und ließ meine Fingerspitzen zucken. Warum in aller Welt nahm Niall sich das Recht, so mit mir umzugehen.
„Sophia?" Jenias Stimme war vorsichtig.
„Hm?"
„Gibt es dort noch mehr?"
Langsam ließ ich meinen Blick wieder auf das Regal fallen. Dort wo die Wasserkanister gestanden hatten, waren braune Flecke, doch hinter zwei leere Plastiktüten konnte ich etwas Silbernes erkennen.
„Nein, das war's. Hier sind nur noch leere Verpackungen", meinte ich.
Seufzend nickte Jenia und drehte sich um. „Okay, dann werde ich jetzt Megs suchen gehen."
Als sie von mir wegging, blickte ich einmal still und heimlich über meine Schulter, um sicher zu gehen, dass keiner auf mich aufmerksam wurde.
Doch jeder war mit sich selbst beschäftigt. Selbst Sam stand etwas von mir entfernt bei Liam.
Bevor ich darüber länger nachdenken konnte, griff ich blitzschnell nach der silbernen Aluminium-Tüte. Denn was Niall konnte, konnte ich auch. Wenn er mir nun immer damit drohen wollte, nichts von dem Gruppen-Proviant abzugeben, musste ich mir selbst etwas zusammensuchen.
Die Verpackung knisterte etwas unter meiner Berührung und bevor ich sie in meinem Dekolleté verstecken konnte, konnte ich den Namen des Fertiggerichts lesen.

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