-24- ➳ Schulden

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Ich wusste nicht, wie lange ich neben Harry sitzen blieb.
Ich wusste nur, dass es lange war und ich nichts anderes machen konnte, als auf seine Stoffarmbänder an meinem Handgelenk zu starren.
Sie wirkten so falsch bei mir.
So falsch.

Gemma hatte sie nicht für mich geschrieben.
Sie waren für Harry bestimmt, sollten ihn ermutigen und beschützen.
Und nun war er tot.
Tot.

Gestorben in meinem Schoß.

Harry war fort und würde nie wieder kommen.

Ich erinnerte mich an meine erste Begegnung mit ihm, nicht allzu lange her.
Es war der Tag, an dem ich zum ersten Mal den Sektor 20c zusammen mit Margarete betreten sollte, um die Einkäufe für die Abendveranstaltung zu erledigen.
Wegen ihm bekam ich schweißnasse Hände, da meine Akte manuell eingerichtet worden war.
Er hatte mich beinahe auffliegen lassen.

Meine zweite Begegnung mit Harry war in den Sicherheitstracks.
Ich habe in einer Zelle neben der von Megs gesessen und gebetet, dass Megs Notfallplan gelingen würde.
Dann tauchte er auf und wolle mich zuerst zurücklassen.
Aus Angst.
Nun konnte ich ihn verstehen.

War ich denn besser gewesen?
Denn ich war genauso daran schuld wie Megs, dass wir Harry in dem Gang mit dem Wächter zurückgelassen hatten, um uns selbst in die vorgetäuschte Sicherheit des geschlossenen Raumes flüchteten.
Niall hatte damals sein Leben gerettet und als er durch den Tunnel hinter dem Fenster fliehen wollte, hatte er es sich anders überlegt und sich gestellt.
Um uns zu helfen.
Um seine Schwester stolz zu machen.

Er hatte keine Ahnung gehabt, was auf uns zukommen würde. Es hätte genauso gut dazu kommen können, dass wir alle hingerichtet geworden wären.
Doch er hatte sich dennoch gestellt.
Was wäre, wenn er dies nicht getan hätte?

Hätte er eine Chance gehabt zu fliehen?
Würde er dann jetzt noch leben?

Harry hatte eine Woche in der Außenwelt überlebt.
Wir waren erst eine Woche außerhalb der Skyscraper und zwei von uns waren schon tot.

Wir mussten uns beeilen.
Wir mussten endlich das verdammte Wasserkraftwerk erreichen, damit nicht noch mehr starben.
Von unserer Gruppe und aber auch aus den Skyscrapern.

Wie im Trance rappelte ich mich auf.
Denn wie das Schicksal wollte, gab es eine aus schwerem Metall bestehende Notausgangtür.
Ein Ausgang, eine Lösung, aus dem Raum, der eigentlich unsere Fluchtmöglichkeit sein sollte, jedoch zu Harrys Todesstätte wurde.

Ohne mir groß Gedanken zu machen, was mich alles auf der anderen Seite erwarten könnte, drückte ich unter Anstrengung die Tür auf. Mir war regelrecht egal, ob dahinter schon die Wölfe lauern würden, denn all meine Gedanken hingen bei Harry und seinen letzten Atemzügen.

Ich drehte mich ein letztes Mal zu Harry um.
Er lag dort auf dem staubigen Boden und sah so anders aus als sonst.
So still.
So rot.
Meine Jacke war ihm immer noch ein Kopfkissen und seine Hände lagen schlaff auf seinem Bauch.

Seine Augen, die ich ihm geschlossen hatte, waren grün. Leuchtend grün. Ich durfte es nicht vergessen.

„Ruhe in Frieden, Harry", flüsterte ich, bevor ich die Türschwelle überschritt.
Und somit verließ ich alleine einen Raum, den ich zusammen mit Harry betreten hatte.

Ich fand mich in einem weiteren Hinterhof wieder.
Auch hier stapelten sich die Trümmerberge zu beiden meiner Seiten hoch und blinzelnd hob ich meine Hand gegen meine Stirn, um besser sehen zu können.
Mit jedem weiteren Schritt den ich mich von Harry entfernte, fühlte ich mich schuldiger. Ich wollte ihn nicht so mutterselenallein zurücklassen.
Aber ich wusste auch, dass die oberste Priorität nun sein musste, die anderen wiederzufinden.
Harry und ich waren schon viel zu lange weggewesen und wenn die anderen uns nicht finden würden, werden sie höchstwahrscheinlich davon ausgehen, dass sie uns auch nie wieder sehen würden.

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