Kampf mit Folgen

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Bedächtig stieg ich die weisse Leiter hinab, die um den Stamm des mächtigen Mallornbaums führte. Die Dunkelheit war nun gänzlich über Mittelerde hinein gebrochen, doch die goldenen Blätter des grossen Baums verdeckten die Sterne. Traurige Lieder sickerten durch die Äste, doch ich hörte nicht auf ihre Bedeutung – zu sehr war ich mit meinen Gedanken in einer anderen Welt.

Als ich den Erdboden erreicht hatte, grüssten mich die hochgewachsenen Wachen, aber ich bemerkte es kaum. Durch die silbernen Baumstämme hindurch konnte ich das weisse Zelt sehen, das man für die Gefährten aufgestellt hatte, doch meine Schritte führten mich den Hügel hinab über die moosbewachsene Erde zu einer kleinen Lichtung, die weitab der bewohnten Mallornbäume lag. Fahl fiel das Mondlicht durch das Loch im Blätterdach und die Sterne glitzerten gütig vom Himmel hinab. Bedächtig liess ich mich auf das weiche Moosbett nieder und legte den Kopf in den Nacken. Die Knie fest an die Brust gezogen sass ich eine gefühlte Ewigkeit einfach nur da und blickte zu den Sternen auf. Beinahe hoffte ich, dass Mutter mir irgendein Zeichen geben werde. Doch die Valar würden nicht in das Geschick dieses Zeitalters eingreifen, soviel war sicher. Mittelerde musste alleine für seine Freiheit kämpfen.

Ein kühler Windstoss liess unvermittelt die Blätter rascheln und ich zog mir das Hemd enger um die Schultern. Morgen musst ich mir von irgendwoher neue Kleidung besorgen, denn das grüne Leinenhemd war viel zu weit.

Mit einem erschöpften Seufzer liess ich mich zurücksinken. Nichteinmal ein Ziehen war zu spüren, als mein Rücken auf dem Boden aufkam. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf meine Lippen: Ein weiteres Mal war ich den Hallen Mandos' entkommen.

Das Gespräch, welches ich gerade mit Galadriel geführt hatte, schlich sich in meinen Kopf und ich musste an ihre Antwort denken, die sie mir gegeben hatte, als ich sie nach meinen nennenswerten Taten gefragt hatte. Hoffnung. Was war das schon? Wenn ich in einer Schlacht gekämpft hatte, hatte es in meinem Kopf nie Platz für Hoffnung gegeben. Nur Hass. Hass auf all diese Kreaturen, die mir gegenüberstanden und mich von meinem Ziel trennten; Kreaturen, die ER erschaffen hatte. In einer aussichtslosen Schlacht liess nicht die Hoffnung mich weiterkämpfen, sondern der flammende Hass auf all die Gräueltaten, die in seinem Namen verübt worden waren.

Eine namenlose Traurigkeit ergriff mich, als ich mir in Erinnerung rief, dass indirekt ich für das Morden verantwortlich war. Ohne mich wären die Nolor nie nach Mittelerde zurückgekehrt und so viel Leid wäre uns erspart geblieben. Ich versuchte, mir diese Welt vorzustellen: Die Silmaril nicht verloren, kein Blutvergiessen in den unsterblichen Landen und Mittelerde würde keine Narben der unzähligen Schlachten aufweisen, die geführt worden waren.

Ein dicker Kloss bildete sich in meinem Hals und ich schloss schnell meine Augen, doch es war bereits zu spät: Eine dicke Träne quoll aus meinem Auge und tropfte über meine Schläfe in das Gewirr meiner Haare.

Hör auf!, schrie ich mich in meinem Innern an, Es hilft nichts und macht das Geschehene nicht ungeschehen. Alles, was deine Schuld vermindern könnte, wäre der Fall Saurons. Also sei nicht so schwach!

Wütend wischte ich die nasse Spur auf meiner Schläfe fort.

Warum habe ich mich nur so gehen lassen?, fragte ich mich im Stillen und versuchte, unser Gespräch zu vergessen, doch etwas geisterte unablässig in meinem Kopf herum: Wollte ich überhaupt zurück?

Obwohl ich den Grossteil meines bisherigen Lebens in Mittelerde verbracht hatte, wollte ich zurück, denn meine Erinnerungen an Valinor waren voller Sehnsucht und immer wenn ich das Kreischen der Möwen hörte und auf die unendlichen Weiten des Meeres hinausblickte, packte mich ein schier unwiderstehliches Verlangen nach meiner alten Heimat.

Doch ich wusste nicht einmal, ob sie mir noch offenstand. Ich war mir ziemlich sicher, dass meine Mutter von meinem Verrat wusste. Sie war gütig, doch würde sie mir in dieser Sache vergeben? Und selbst wenn mir Einlass und Vergebung gewährt werden sollten, wusste ich nicht, wie meine alten Freunde auf mich reagieren würden.

Die letzte ReiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt