Der Spiegel

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Wütend pfefferte ich das Hemd in eine Ecke des kleinen überdachten Fletts Ich liess mich auf das ordentlich gemachte Bett fallen und vergrub den Kopf in den Händen. Erfolglos versuchte ich, mich zu beruhigen, doch mein Herz schlug weiterhin ärgerlich in meiner Brust. Vorsichtig tastete ich nach der verräterischen Narbe.Eine längliche Erhebung zeigte, wo die Greifer der Spinne meine Schulter durchbohrt hatten. Sanft fuhr ich die Linie nach und beruhigte mich allmählich.

Mit einem klare Kopf malte ich mir nun aus, wie es sein würde, wenn mich noch mehr Leute dazu bringen wollten, ein Elbenheer aufzustellen. Müde stöhnte ich auf. Hatte ich nicht genügend andere Sorgen?

Rede mit ihm!, riet mir die Stimme in meinem Kopf, Wenn du Glück hast, hat er es noch nicht einmal Aragorn erzählt.

Ich dachte kurz über diesen Einfall nach und entschied mich dann dazu, es einfach zu probieren. Was hatte ich denn zu verlieren?

Erschöpft hob ich den Kopf und liess meinen Blick einmal durch das Flett schweifen. Nur das Bett und eine winzige Kommode, auf welcher eine der silbernen Elbenlampen stand, hatten in dem kleinen fensterlosen Raum Platz gefunden. Erleichtert entdeckte ich ein Kleiderbündel, das am Fussende des Bettes lag.Ich entfaltete das oberste Kleidungsstück erfreut und legte es dann sogleich wieder zur Seite. Ein weisses Kleid lag ausgebreitet vor mir auf dem Bett und ich stöhnte genervt auf. Lieber würde ich weiterhin meine verdreckte Kleidung tragen, als in dieses Kleid zu schlüpfen! Ich besah mir den restlichen Haufen und stellte glücklich fest, dass er aus einer schwarzen Hose und einer weiten weissen Bluse bestand. So schnell wie möglich zog ich mich um und faltete meine alten Kleider säuberlich zusammen. Während ich die hohen Lederstiefel zuschnürte, legte ich mir im Kopf zurecht, wie ich dem Prinzen des Düsterwaldes meine Situation einigermassen erklären konnte. Noch immer unschlüssig trat ich auf die kleine Plattform vor meinem Flett hinaus. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und in Eile kletterte ich die filigrane Leiter hinab.

Als befände sich der Sänger in weiter Ferne, drang ein einzelnes trauriges Klagelied durch den goldenen Wald.

Als ich am Fusse des Baumes angekommen war, machte ich mich auf den Weg zu dem weissen Zelt, das man für die Gefährten aufgestellt hatte.

Ganz alleine ging ich unter den riesigen Mallornbäumen dahin, deren Stämme in der Dämmerung nur noch gräulich schimmerten. Die Farben der Welt wurden verschluckt und Schatten nahmen ihre Plätze ein.Über mir erleuchtete allmählich ein Meer aus silbernen Lampen und tauchte Lorien in ein mystisches Zwielicht.

Plötzlich blieb ich stehen. Versteinert stand ich da und lauschte auf den Singsang monotoner Worte, der wie Nebel träge zwischen den Baumstämmen umherzukriechen schien.Ein dicker Kloss bildete sich in meinem Hals, als ich die Stimme erkannte.

Das ist unmöglich!, schoss es mir durch den Kopf. Trotzdem erwachte ich aus meiner Starre und folgte dem monotonen Gesang; erst langsam, dann immer schneller. Zuletzt rannte ich durch den goldenen Wald, mein Herz raste wie wild. Mit zitternden Knien blieb ich schliesslich an einer schmalen Steintreppe stehen, die in eine kreisrunde Senke hinabführte. Ein kleiner Bach plätscherte in ein grosses steinernes Becken und in der Mitte der Senke stand ein mit Ornamenten verzierter Sockel, auf dem eine flache Steinschale lag. Zögernd stieg ich die wenigen Stufen hinab.

Ich wusste genau, wo ich war: Vor mir stand Galadriels Spiegel. Bei jedem meiner Aufenthalte hatte sie mich gefragt, ob ich einen Blick hineinwerfen wolle, und jedes Mal hatte ich abgelehnt.

„...Dinge, die waren, Dinge, die sind und Dinge, die noch sein mögen...", hallte Galadriels Stimme in meinem Kopf wider.

Ich wollte mich umdrehen, wollte nicht in die dunkle Vergangenheit in dem Wasser sehen, wollte die Stimme vergessen, die unablässig aus der flachen Schale drang.

Die letzte ReiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt