Ein Traum, ein Dolch und wenig Worte

144 8 0
                                    

Die nächsten paar Tage zogen, ohne mich in meiner stillen Selbstverwahrlosung zu stören, an mir vorbei. Morgens stand ich auf, suchte irgendwo in der Stadt eine Strassenecke, an der heisse Suppe und Brot verteilt wurde, schlang alles mechanisch herunter und begann dann, den Stadtbewohnern bei den mühsamen Aufräumarbeiten zu helfen. Ich schleppte Trümmer, fegte Staub und schrubbte das getrocknete Blut von den Strassen, bis ich schweissüberströmt und keuchend aufgeben musste. An einer anderen Strassenecke stand ich später im Einbruch der Nacht für eine weitere Schüssel Suppe an. Ich vermied es strickt, mich jemals zweimal in ein und demselben Viertel blicken zu lassen. Ich wollte die anderen nicht sehen, wollte mit niemandem reden. Nur abends, nachdem ich ungesehen in mein Zimmer geschlüpft war und eine Karaffe Wein leerte, liess ich einzelne Gedankenfetzte in meinem Kopf zu. Sie waren verworren und düster. Obwohl ich mich mit allen Mitteln gegen das Einschlafen sträubte, träumte ich nachts immer und immer wieder von dem grossen Tisch im schwarzen Turm, an dem Sauron sass und mit mir Dinge besprechen wollte. Und jedes Mal hielt er mich länger in seinem Bann. Erst biss ich in einen Apfel, dann nippte ich an einem goldenen Weinglas und zuletzt setzte ich mich auf den Stuhl im gegenüber. Nacht um Nacht fuhr ich schweissüberströmt aus dem Schlaf auf und ertränkte mich im Selbsthass.

Montags glaubte ich, Pippin am Ende der Strasse zu sehen und verstecke mich instinktiv hinter einem herabgestürzten Balkon. Mittwochs waren es Legolas und Gimli, donnerstags Gandalf. Ich floh jedes Mal wie ein kleines Häschen, das am Horizont eine Krähe erkannt hatte. Ich wusste nicht, woher diese Abneigung gegen jegliche Gesellschaft kam, doch es schien eine Ausgeburt meiner innersten Instinkte zu sein. Irgendetwas in mir schien ständig angespannt zu sein und war bereit, jede Sekunde zu reissen. Eine Wildkatze, bereit zum Sprung. Meine Nerven lagen blank, Ruhe zu finden war unmöglich.

«Da bist du ja wieder!», begrüsste Sauron mich zu unserem allnächtlichen Mitternachtsschmaus.

Müde liess ich mich auf den Stuhl neben ihm fallen. Die hohe Lehne aus Ebenholz knarzte zufrieden.

«Du siehst erschöpft aus.», bemerkte der Herr über die Ringe – nun in der Gestalt Melkors – halbwegs besorgt und goss mir Wein in einen kristallenen Kelch. Ich leerte ihn in einem Zug, wischte mir den Mund mit meinem staubigen Ärmel ab und schnaufte einmal höhnisch.

«Du tust so überrascht!», feixte ich.

«Es bin nicht ich, der dir all das antut.», versicherte er mir ruhig.

«Ach nein? Willst du mir sagen, ich würde mich selbst so zugrunde richten?»

«Ja.»

Seine unerschütterliche Ruhe brachte mich in Rage. Fahrig suchte ich nach einem weiteren Weinkelch und leerte ihn schnell.

«Sag mir, Elrien, warum bist du nicht vor zwei Zeitaltern, als sie mich besiegt hatten, wieder zurück über das Meer gegangen? Warum hast du es nicht getan, als sich abzeichnete, dass das Dritte Zeitalter euch Elben verdrängen würde? Warum bist du nicht gegangen, als du merktest, was für eine Bedrohung du für alle anderen sein könntest? Willst du mir sagen, es ist dieser kindische Schwur, der dich zurückhält?»

Wütend wandte ich das Gesicht ab. Ich kannte die Antwort und wollte sich doch nicht aussprechen. Ich kannte sie und wollte sie nicht hören; nicht von ihm, nicht von mir. Manchmal ist die Wahrheit zu wahr.

«Du willst nicht gehen. Wie lange warst du in Valinor? Wie lange warst du hier? Gib es zu! Das hier ist dein Zuhause! Du kannst nicht gehen. Du-«

«LASS ES!»

Wütend sprang ich auf und riss dabei einen Kelch vom Tisch, der klirrend am Boden zerschellte.

Die letzte ReiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt