Die Ruhe vor dem Sturm

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Mit schnellen Schritten lief ich durch den Wald. Nur das Rascheln der Blätter unter meinen Füssen und die gleichmäßigen Atemzüge aus meinem Mund waren zu hören. Obwohl ich über eines der besten Augenpaare Mitterlerdes verfügte, konnte ich nur einige Meter weit sehen, da das Blätterdach die silbernen Strahlen des Mondes und der Sterne abfing. Die Baumstämme standen dicht beisammen und bildeten ein riesiges Labyrinth, durch welches sich Efeuranken ihren Weg suchten. Von meinen Schritten aufgeschreckt flatterte eine Eule durch den Wald. Die Klinge meines Schwertes schlug mir leicht gegen die Beine, während Meile um Meile unter meinen Füssen dahinglitt. Als es nur noch wenige Stunden bis Sonnenaufgang waren, beschloss ich für den Rest der Nacht zu rasten und meinen Weg morgen fortzusetzen. Nicht dass ich besonders erschöpft gewesen wäre; aber ich wollte morgen möglichst ausgeruht sein. Ich hatte das Gefühl, auf etwas Böses zu zulaufen und wollte kein Risiko eingehen, durch meine Erschöpfung in eine Falle zu geraten. Zu meiner Rechten nahm ich ein leises Plätschern war. Als ich darauf zu lief, erkannte ich Stück für Stück eine kleine Lichtung am Ufer eines Baches. Zum ersten Mal in dieser Nacht erblickte ich den Mond und die Sterne, die sich im Lauf des Baches spiegelten. Auf meinen Lippen erschien ein leichtes Lächeln und ich kniete am Bachufer nieder. Ich wollte gerade mit meinen Fingerspitzen die glatte Oberfläche des Bachlaufs durchbrechen, als mir mein Spiegelbild auffiel. Die stechend blauen Augen im Wasser starrten mich durchdringlich an. Kurz musterte ich mein Gesicht, aber ich konnte keinen Unterschied zu den tausenden bereits vergangenen Jahren erkennen. Alles war wie immer. Meine sternengleichen Augen, die roten Lippen, die blass schimmernde Haut und sogar meine silbernen Haare sahen unverändert aus. Ich kippte leicht den Kopf zur Seite. Irgendetwas war trotzdem anders. Nach einigen Sekunden blieb ich erneut an meinen Augen hängen. War es möglich, dass sie nicht mehr ganz so hell strahlten, wie sie es früher getan hatten? Verwundert beugte ich mich noch weiter über die Wasseroberfläche. Doch bevor ich meine Augen richtig gemustert hatte, glitt mir eine Strähne meiner silbernen Haare über die Schulter und landete, die spiegelglatte Oberfläche des Wassers zerstörend, im Bach. Leicht schüttelte ich den Kopf und spritzte mir mit den Händen das kalte Wasser ins Gesicht. Ich war in letzter Zeit sehr angespannt, weil ich merkte, dass sich wieder etwas Grosses anbahnte. Und in solchen Dingen hatte ich mich in all der Zeit noch nie geirrt. Aber diese Anspannung war noch nie so stark gewesen, dass ich mir gleich Sachen einbildete! Die paar Stunden Schlaf konnte ich auf jeden Fall gebrauchen.

Nachdem ich auch meinen Durst gestillt hatte, legte ich mich im weichen Moos auf den Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und schaute zu den Sternen. Wieder schlich sich ein leises Lächeln auf meine Lippen. Egal, was hier unten geschehen würde, das Muster der Sterne am Himmel würde immer noch das gleiche sein. In den tausenden von Jahren, die ich bereits lebte, waren sie immer ein treuer Begleiter gewesen. Sie waren das Erste gewesen, was meine Augen jemals erblickt hatten, und nach jeder verlorenen Schlacht, wenn wieder einmal einige meiner Bekannten Mittelerde für immer verlassen hatten, standen sie unerschütterlich am Nachthimmel wie eh und je. Ein tiefer Seufzer entfuhr meinen Lippen und langsam übermannte mich der traumlose Schlaf der Elben.

Kurz vor Sonnenaufgang schlug ich die Augen auf. Eine Weile lag ich noch reglos da und beobachtete, wie die Sterne am Himmel langsam verblassten. Als das Himmelszelt sich im Osten langsam rosarot verfärbte und somit die esten Sonnenstrahlen ankündigte, erhob ich mich elegant von meinem Moosbett und klopfte mir Erde und Moos vom Rücken. Der nächtliche Nebel lag noch tief am Boden und verwandelte den Wald in einen Ozean, aus dem die Stämme der Bäume herausragten. Auch auf meiner Lichtung lag noch ein weisses Nebeltuch, das sich aber in wenigen Stunden zu kristallenen Tautropfen auf dem weichen Moos verwandelt haben würde. Nachdem ich meinen Schwertgurt festgezurrt und meine Hüfttasche wieder umgeschnallt hatte, ging ich zum Bachufer, um nochmals etwas zu trinken, bevor ich meine Reise fortsetzen würde. Ich beugte mich über das glasklare Wasser und wollte meinem Spiegelbild in die Augen sehen. Aber der Bach floss heute reißender als gestern noch und die Oberfläche war zu aufgewühlt, als dass sie sich hätte in einen Spiegel verwandeln können. Schulterzuckend formte ich meine Hände zu einer Schale, füllte sie mit dem kalten Wasser und führte sie zu meinem Mund. In meinen Lippen entstand ein angenehmes Kribbeln, als sich die kühle Flüssigkeit ihren Weg erst durch meinen Mund und dann meine Kehle hinab bahnte. Noch viermal wiederholte ich den Vorgang. Mit dem Handrücken über meinen Mund fahrend erhob ich mich. Einen letzten Blick warf ich noch auf mein Nachtlager, dann machte ich mich auch schon wieder auf den Weg. Ich schlug ein schnelles Tempo an und suchte mir durch den Nebelozean hindurch meinen Weg Richtung Bree. Sollten meine Informationen stimmen, musste sich Aragorn dort in der Gegend aufhalten. Bei dem Gedanken an Aragorn musste ich lächeln. Er war einer der wenigen Menschen, mit denen mich eine Freundschaft verband. Denn wenn man die Ewigkeit zu leben hatte, huschten die Menschen an einem vorbei wie Schatten auf einer Wand. Von allen Menschenvölkern standen die Dunedain, die Waldläufer, mir am nächsten. Sie waren wie ich, hatten keine richtige Heimat, waren mal hier, mal dort unterwegs und kämpften mit aller Kraft, die sie aufbringen konnten, für die Freiheit Mittelerdes. Und wie der Stern Earendil aus dem Heer der Sterne, so stach auch Aragorn aus diesem erstaunlichen Menschenvolk heraus. Ich kannte ihn schon seit er seine ersten Schritte machen konnte und hatte ihn seither auch regelmässig besucht, weil ich mir vorgenommen hatte, ein Auge auf die rechtmäßigen Trohnerben Gondors zu haben. Aus den Besuchen hatte sich schliesslich eine so starke Freundschaft entwickelt, wie ich sie seit einigen tausend Jahren mit keinem anderen männlichen Bewohner Mittelerdes geführt hatte. Ich liebte Aragorn. Aber nicht wie einen Geliebten. Denn ich hatte mir verboten jemals wieder solche Gefühle für jemanden zu empfinden. Aragorn liebte ich wie einen kleinen Bruder und er mich wie seinen grosse Schwester.

Als die Sonne ihren Zenit erreicht hatte, machte ich Rast. Der Wald hatte sich etwas gelichtet und hie und da lagen kleine Felsen zwischen den Bäumen. Einen dieser Felsen suchte ich mir aus und lies mich auf ihn niedersinken. Aus meiner Hüfttasche nahm ich mein letztes Lembasbrot und brach es in der Hälfte. Die eine legte ich vorsichtig auf den Felsen neben mir und die andere wickelte ich wieder fein säuberlich in des Blatt ein und verstaute sie in meiner Tasche. Bald würde ich in Bree sein, es lag nicht mehr allzu weit entfernt in westlicher Richtung, und dort würde ich meine Vorräte wieder aufstocken können. Das Lembasbrot neben mir fand den Weg in meine Hand und ich riss langsam kleine Stückchen davon ab und steckte sie in den Mund, ganz in Gedanken vertieft. Schon seit ich heute morgen wieder losgelaufen war, quälte mich ein schlechtes Gewissen. Gerade ICH sollte meine Zeit nicht damit vergeuden, jemanden zu suchen. Auch wenn es Aragorn war. Es gab denkbar bessere Orte in Mittelerde, an denen ich jetzt sein könnte. Den Elben im Düsterwald bei der Verteidigung ihrer Grenzen helfen oder in Osgiliath den Gondorrim gegen die Heere Mordors zu Seite zu stehen, um nur zwei zu nennen. Energisch schüttelte ich den Kopf. Ich MUSSTE Gandalf finden. Er war schon zu lange verschollen und ich musste dringend mit ihm reden; über meine Vermutung, dass SIE wieder in Mittelerde wandelten. Und der einzige, der, wenn überhaupt, wissen konnte, wo Gandalf sich aufhielt, war Aragorn. Ich schluckte den letzten Bissen Lembas hinunter und erhob mich.

"Mögen die Valar meine Suche verkürzen.", murmelte ich und stelle einen Fuss auf den Felsen, um meine hohen dünnen Stiefel neu zu schnüren. Ich wollte gerade den Knopf lösen, als ich in meiner Bewegung erstarrte. Ich spüre es schon wieder, IHRE Anwesenheit. Das Gefühl war stark, zu stark. Ich hatte ja schon vermutet, dass SIE, sollten sie denn wieder unter uns wandeln, hier waren. Aber nun konnte ich mich nicht mehr irren. SIE waren hier; in diesem Wald; in meiner Nähe. Unbeweglich verharrte ich in meiner Position. Mir fiel auf, wie still der Wald plötzlich geworden war. Kein Vogel sang mehr, der Wind brachte die Blätter der Bäume nicht mehr zum Rauschen und auch das Rascheln im Unterholz war verschwunden. Ich konnte nur meinen eigenen Atem hören und vernahm leise das Pumpen meines Herzens in meinen Ohren. Weiterhin stand ich still da. Ich wartete auf etwas. Es war zu spät, zu verschwinden. Als ich wie aus dem Nichts plötzlich Pferdehufe über die trockenen Blätter stampfen hörte, erwachte ich aus meiner Starre und legte meine rechte Hand an den Schwertgriff. Da stand nur einer. Ein fairer Kampf. Ich war bereit.

Die letzte ReiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt