Die Rufe der Möwen

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Der salzige Fahrtwind verstrubelte meine langen, strähnigen Haare. Vorwitzige Sonnenstrahlen küssten meine müden Augenlieder. Die kühle Gischt auf meinen Unterarmen wusch den Staub der vergangenen Tage langsam weg.

Ich brauchte dringend ein Bad. Und Schlaf, bei den Valar! Schlaf!

Mühsam öffnete ich meine Augen wieder. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, doch trotz allem kam sie nicht gegen den grünlichen Schimmer der Geisterarmee an, der uns auf dem rutschigen Bootsdeck auf Schritt und Tritt verfolgte. Mehr schlecht als recht strich ich mir einige Strähnen aus dem Gesicht. Zuvorderst am Bug standen Aragorn und Legolas neben einer der übergroßen Armbrüste, die an der Rehling befestigt worden war. In einem im Deck eingelassenen Köcher glänzten noch einige spitze Bolzenspitzen.

Bevor ich mir eine Ausrede zurechtgelegt hatte, um mich nicht neben sie stellen zu müssen, hatte Aragorn sich bereits zu mir umgedreht und mir auffordernd zugewunken. Unwillkürlich verzog sich mein Mund zu einem angesäuerten Lächeln. Ich hatte gerade keine Lust, mich auch nur mit einem der beiden zu unterhalten. Geschweige denn mit beiden. Die Ereignisse der letzten Tage hatten mir mehr zugesetzt, als ich es mir selbst eingestehen wollte. Trotzdem fügte ich mich Aragorns Wunsch.

Während des kurzen Weges zu den beiden rutschte ich mindestens drei Mal auf den noch frischen Blutlachen aus, die das ganze Deck wie ein schaurig schönes Muster bedeckten. Auch unter meinen Fingernägeln klebten noch verkrustete Zeugen des jüngsten Blutvergießens, doch meine Gleichgültigkeit verbat es mir, mich um saubere Finger zu kümmern. Den Punkt, an welchem ich das Blut an meinen Händen nicht mehr leugnen konnte, hatte ich bereits lange überschritten.

Außerdem... Hätte ich das jemals gewollt?

"Gimli hat uns heute Morgen eine interessante Geschichte erzählt. Über dich.", begann Aragorn, als ich bereits in Hörweite war.

Ich wusste sofort, um welche Geschichte es sich handelte. Dieser Zwerg war ein schlimmeres Waschweib als Pippin und Merry zusammen!

"Ich hoffe, er hat seinen Mund nicht zu weit aufgerissen. Es war schon schwer genug, überhaupt das bisschen Frühstück zu organisieren.", konterte ich schwach.

Gimli lag seit heute früh in einer groben Hängematte und klagte über den hohen Seegang.

Trotz meines monotonen Tonfalls konnte Legolas sich ein feixendes Lächeln nicht verkneifen.

Die beiden rückten auseinander, sodass ich mich zwischen ihnen auf der nassen Rehling abstützen konnte. Die Taubheit, die meinen linken Arm dabei sofort erfasste, war kein gutes Zeichen.

Von hier aus war der Blick auf das geheimnisvoll strahlende Meer sogar noch atemberaubender. Zu unserer Linken zog sich die zum Teil sehr dicht mit Hafenstädten besiedelte Küste entlang. Möwen tanzten in der Luft und sangen lachend ihre Lieder. Ein altvertrautes Ziehen in meiner Brust stellte sich ein.

"Wie ist das passiert? Hattest du immer schon Angst vor engen Räumen?", fragte Aragorn zaghaft aber direkt, den Blick dabei starr nach links gerichtet, um nicht die tiefschwarzen Wolken sehen zu müssen, die sich vor uns über den Landen Mordors dunstig auftürmten.

Ich seufzte unhörbar. Immer diese alten Fragen. Diese alten Geschichten voller Blut und Verlust. Alte Erinnerungen, die man wieder hervorkramen musste.

Warum konnte ich nach den schönen und warmen Momenten gefragt werden?

Ich gab mir die Antwort gleich selbst: Weil du dann nicht viel zu erzählen hättest, Dummerchen!
"Es ist... schon länger her...", begann ich zögerlich. Aragorn nickte ermutigend.

Sollte ich diese Geschichte wirklich erzählen? Nach so langem Schweigen.

Das auf und ab des Decks wirkte beruhigend auf uns alle und die Schreie der Möwen verbreiteten ein Gefühl der Heimat.

Die letzte ReiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt