Seit Jahren fragte ich mich, was wohl das letzte war, an das meine Schwester dachte. Vielleicht dachte sie ja an unsere Familie, an Mama, Papa und mich. Vielleicht blickte sie aber auch in die Fratze ihres Mörders, falls es denn einen gab. Vielleicht atmete sie auch noch, weit entfernt von uns. In einer anderen Stadt, in einem anderen Land, da sie uns hinter sich gelassen hatte. Falls es so sein sollte, schien sie es nicht zu bereuen, uns verlassen zu haben. Sonst wäre sie ja zurück gekommen. Vielleicht würde sie es ja in ihren letzten Atemzügen bereuen uns verlassen zu haben. Doch es wäre egal, denn ich würde es nie erfahren. Ich wusste ja nicht einmal, ob sie noch lebte oder nicht. Das wusste niemand. Und ich wüsste noch nicht einmal, was schlimmer wäre, wenn sie tot oder weggelaufen wäre.
Aber es sind zu viele Vielleichts, Wenns und Falls' in meinen Gedanken und Überlegungen. Das einzige, was wirklich Gewicht hat, ist, dass Louise nicht mehr da war. Einfach weg. Aus unserem Leben gerissen. Und sie hat noch Jahre danach eine blutende Wunde hinterlassen. Eine, die nie ganz verheilen wird, sondern immer wieder aufreißt.
Den einzigen Anhaltspunkt, den wir kannten war ein Haus. Ein altes, verlassendes Haus am Rand der Stadt. Das letzte Mal, dass Lou gesehen worden war, war bevor sie dieses Haus betreten hat. Als eine Mutprobe. Lou fürchtete sich nie, eine Eigenschaft, die ich an ihr immer bewundert hatte. Aber vielleicht wurde auch eben dies ihr zum Verhängnis.
Und nun stand ich dort, vor demselben Haus, indem meine Schwester vor sechs Jahren verschwand. Es war eventuell nicht meine beste Idee, diese Mutprobe mitzumachen. Doch ich war eine Fremde in meiner eigenen Heimat. Zu lange war ich mit meinen Eltern fort gewesen. Solange, dass meine Freunde zu Fremden geworden waren. Fremde, die ich zwar zu kennen glaubte, es aber nicht tat. Es war etwas Erschreckendes, Menschen zu treffen, die man sein Leben lang, kannte. Die man besser kannte als sich selbst und dann plötzlich feststellte, dass sie nicht mehr dieselben waren. Womöglich hatte auch einfach ich mich verändert.
Ich atmete tief durch und machte einen Schritt in Richtung Haus. Auf mich wirkte es, als ob es gleich einen Satz nach vorne machen und mich verschlingen würde. Für die anderen war es höchst wahrscheinlich bloß ein Haus, in dem ein Mädchen verschwunden war. Ich zwang meine Beine, sich zu bewegen. So torkelte ich durch die Allee, über den bewucherten Vorplatz, bis zur hölzernen Eingangstür. Keuchend, als hätte mich diese kurze Strecke alle meine Kräfte gekostet stand ich da und versuchte mich für das zu wappnen, was sich hinter dieser Tür verbarg. Mein Gehirn malte sich die bizarrsten Dinge aus, auch wenn es wusste, dass nichts davon möglich war. Doch zu oft hatten mich Albträume geplagt, zu oft hatte meine Fantasie mir Streiche gespielt. Zu oft hatte ich Lou irgendwo gesehen, war wildfremden Mädchen hinterher gerannt, hatte sie weinend festgehalten und ihren Namen geschluchzt. Unfähig zu begreifen, wie es möglich war, dass sie hier war. Doch jedes Mal, war mir die Enttäuschung wie bittere Galle hochgestiegen, als ich erkannte, dass es nicht Louise war.
Ich hatte schon zu viel mitmachen müssen, als dass das hier spurlos an mir vorbei ging. Seit sechs Jahren war ich auf der Suche nach meiner Schwester, doch ich habe sie nie gefunden.
Zittrig holte ich Luft, nicht sicher, ob ich es schaffen würde, die nächste Stunde in diesem Haus zu verbringen. Langsam streckte ich die Hand aus und spürte nur allzu deutlich die Blicke der anderen im Rücken. Sie wirkten auf mich wie Geier, die nur darauf warteten, dass ich einen Rückzieher machte. Und in diesem Moment war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich ein Teil von ihnen seien wollte. War es denn Freundschaft, wenn man nur darauf wartete, dass der andere einen Fehler machte? Schwäche zeigte? Doch auch, wenn ich kein Teil von ihnen seien wollte, würde ich keinen Rückzieher machen. Ich würde ihnen nicht zeigen, dass ich verletzlich war. Ich hatte so lange Stärke gezeigt, dann würde ich es auch gegenüber dieser Volldeppen schaffen.
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Spiegelwelt
Science FictionStell dir vor, deine Schwester verschwand vor sechs Jahren. Stell dir vor, du wünscht dir nichts sehnlicher, als sie wieder zurück zu haben. Stell dir vor, du begibst dich in dasselbe Haus in dem sie damals verschwand. Stell dir vor, dort passiere...